Schiitischer Bruderkampf im Irak

Einst war er Irans enger Verbündeter. Als es darum ging, Saddam Hussein zu bekämpfen oder die amerikanischen Truppen aus dem Irak zu jagen, standen der schiitische Prediger Moktada Sadr und die Teheraner Machthaber fest beieinander. Doch das gehört einer fernen Vergangenheit an. Längst haben sich ihre Wege getrennt, martialisch klingen heute die gegenseitigen Drohungen.
Der Videoclip dauert genau eine Minute und acht Sekunden. Er ist erst zwölf Tage alt, wird aber schon jetzt als historisches Dokument weitergereicht: als anschaulicher und verständlicher Beweis dafür, warum ein Staat aufhörte zu existieren, ein winziges, aber wichtiges Puzzlestück eines längst zerstörten Bildes.
Es ist Samstag, der 30. April 2016, früher Nachmittag. In Bagdad stürmen Hunderte Anhänger des schiitischen Predigers Moktada Sadr die so genannte Grüne Zone und besetzen das irakische Parlament. Bilder dieser spektakulären Aktion sind sofort in zahlreichen TV-Kanälen zu sehen, Kommentatoren versuchen zu ergründen, wie und warum es den Demonstranten gelang, einen der bestbewachten und hermetisch abgeriegelten Regierungsbezirke dieser Welt zu stürmen.
Das Ausmaß der Katastrophe
Unter all dem Bild- und Tonmaterial, das an diesem Samstagnachmittag aus Bagdad um die Welt geht, ist keines so aufschlussreich und vielsagend wie dieser kurze Clip. Er wird zunächst von Al Arabijeh TV verbreitet und im Nu in allen sozialen Medien millionenfach geteilt. Das Echo ist enorm. Auch die iranischen Revolutionsgarden müssen schnell darauf reagieren.
Zu sehen ist eine zornig schreiende Menschenmenge, die bis zum Eingang des Parlaments vorgedrungen ist. Ihre Glaubensbrüder haben im Inneren des Gebäudes gerade die Abgeordneten in die Flucht gejagt. Die Parlamentsbesetzer fordern eine Regierungsreform und einen stärkeren Kampf gegen Korruption. Doch in dem Clip hört man von diesen zwei Forderungen nichts. Dafür ruft die Menschenmasse zwei andere Parolen, die vordergründig weder mit der Korruption noch mit dem Irak zu tun haben: „Raus mit dem Iran! Soleimani hau ab!“
Nur diese zwei Sätze wiederholt die aufgebrachte Menge zunehmend lauter. Nicht mehr. Doch diese zwei Sätze haben es in sich. Gerade an diesem Tag, an diesem Ort und vor allem aus diesen wütenden Kehlen. Denn sie sagen viel aus über das Ausmaß der politischen Katastrophe im Irak.
Bahnt sich ein schiitischer Bruderkampf an?

Moktada Sadr - Foto: presstv.ir
Moktada Sadr – Foto: presstv.ir

Für sich genommen sind diese beiden Slogans keineswegs neu und weltbewegend. Gegen die iranische Dominanz und die Umtriebe des geheimnisumwitterten iranischen Generals Qassem Soleimani im Irak sagen und sagten seit Jahren viele Iraker viel. Doch bis jetzt waren das hauptsächlich Sunniten, Baathisten, Kurden oder säkulare Schiiten. Sie alle meinen, der Iran trage die Hauptverantwortung für das irakische Elend. Manche von ihnen gehen noch weiter und meinen, der Iran und Qassem Soleimaini hätten mehr zur Zerstörung des Irak beigetragen als die USA und George W. Bush. Richtig oder falsch, über solche Äußerungen hat man sich nie gewundert. Dass die Anhänger Saddams, die Kurden, die sunnitischen Clanführer oder die säkularen Politiker gegen die iranische Einmischung in ihrem Land sind, ist nicht überraschend. Ideologisch oder religiös gesehen ist diese Position sogar logisch und nachvollziehbar.
Doch dass nun auch die Anhänger Moktada Sadrs Parolen gegen den Iran skandieren, das ist eine neue Dimension, das lässt in die Tiefe der Kluft und Fragmentierung der irakischen Gesellschaft hineinschauen. Zu allen Kriegen, die in diesem Land herrschten, komme ein besonderer, neuer Bruderkampf hinzu, möglicherweise ein innerschiitischer Krieg, sagen einige Beobachter.
Er eignete sich nie als Befehlsempfänger
Moktadas Beziehung zum Iran ist eine spannende Geschichte, die über die Lebensgeschichte des 42-Jährigen, aber auch über den Irak weit hinausgeht. Seine hochgeachtete Familie hat die Entwicklung des Schiitentums nicht nur im Irak, sondern auch im Iran und im Libanon tief geprägt. Moktadas Vater, Mohammed Sadiq al-Sadr, war ein in der gesamten Region allseits verehrter Ajatollah, der 1999 von Saddams Schergen ermordet wurde. Viele irakische Schiiten halten ihn heute für einen heiligen Märtyrer. Nach diesem Mord ging der junge Moktada zunächst in den Untergrund und anschließend in den Iran. Doch seine Verbindung zu den Machthabern in Teheran blieb wechselvoll und spannungsgeladen. Vieles ließ sich in dieser Beziehung beobachten: Kooperation, Respekt, Distanz, Neid.
Aus dem Spross einer angesehenen Familie ließ sich jedenfalls kein normaler Befehlsempfänger schmieden. Nun nimmt diese Beziehung eine neue Wendung, die in einer tödlichen Rivalität enden könnte. In diesen Tagen erscheint Moktada auf der Bühne des irakischen Bürgerkriegs mehr als Araber und irakischer Nationalist denn als schiitischer Revolutionär. Einst befehligte er eine Miliz, die so genannte Mahdi-Armee von 50.000 Mann, die er 2003, kurz nach dem Sturz Saddams, gegründet hatte. Seine Armee war ein Machtfaktor, an dem niemand vorbeikam, eine gewalttätige Truppe, mit der nicht einmal die US-Armee fertig wurde. Sadrs Milizionäre hätten mehr als 6.000 Sprengsätze gegen die US-Besatzer gezündet, es sei schließlich auch ein Verdienst Moktadas, dass die Amerikaner sich gezwungen sahen, das Land zu verlassen, erzählt mancher irakische Chronist. Als ihn die USA schließlich steckbrieflich suchten, flüchtete Moktada wieder in den Iran. 2012, nach dem Abzug der US-Truppen, kehrte er in den Irak zurück.
Wie aus einer Ausnüchterungszelle
Fortsetzung auf Seite 2!