Atomverhandlungen: Das Alles-oder-Nichts-Prinzip weicht auf

Der Iran ist ernsthaft bemüht, den Atomkonflikt mit dem Westen beizulegen. Um dieses Ziel zu erreichen, trafen Präsident Rouhani und sein Außenminister westliche PolitikerInnen in New York. Beide Seiten dürfen in ihrem letzten Spiel das Blatt nicht überreizen, denn ein Scheitern der Atomverhandlungen hätte unabsehbare Folgen für den Iran und die gesamte Region, so der politische Analyst Mehran Barati in einem Gastbeitrag für TFI.


Am 17. September 2014 erklärte der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif in einem Interview mit dem weltweit ausgestrahlten amerikanischen National Public Radio (NPR), jede Art der Einigung im Atomstreit zwischen dem Iran und dem Westen sei besser als keine Einigung. In der Genfer Vereinbarung zwischen der Islamischen Republik und der Gruppe 5 + 1 (bestehend aus den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und Deutschland) vom November 2013 stand jedoch sogar an zwei Stellen ausdrücklich: „Es gibt keine Einigung, bevor alles vereinbart ist.”
Haben nun etwa beide Seiten erkannt, dass nach einem Jahr zäher Verhandlungen das Alles-oder-Nichts-Prinzip nicht mehr gelten kann? Die Antwort lautet wohl: Ja. Denn auch die Amerikaner und Europäer mussten inzwischen einsehen, dass angesichts der explosiven militärischen und politischen Lage in der Nahost-Region die politisch-militärische Kooperation mit der Islamischen Republik Iran unverzichtbarer Bestandteil einer Kampfstrategie des Westens gegen die Gruppe “Islamischer Staat“ (IS) geworden ist. Der bald einjährige Atomverhandlungspoker muss auch aus diesem Grund beendet werden. Beide Seiten müssen bemüht sein, in ihrem letzten Spiel das Blatt nicht zu überreizen. Ein Scheitern der Atomverhandlungen hätte unabsehbare Folgen für den Iran und die gesamte Region.
Die nach wie vor ungelösten Streitpunkte sind:
➢      Anzahl und Qualität der in Betrieb befindlichen Zentrifugen zur Urananreicherung sowie das Maximalvolumen des angehäuften betriebsfähigen Urans;
➢      Umbauten am Schwerwasserreaktor in der Stadt Arak, Verhinderung der Produktion von waffenfähigem Plutonium und Verringerung der produzierten Mengen;
➢      Dauer der vereinbarten Einschränkungen: Wann wird die Gruppe 5 + 1 von den erklärten friedlichen Absichten der Iraner überzeugt sein?
➢      Geschwindigkeit und Art der Aufhebung der gegen den Iran verhängten Embargos, Beschluss des Weltsicherheitsrates, Abstimmung des US-Kongresses noch in der verbliebenen Amtszeit von Präsident Obama oder          in einem längeren Zeitraum?
➢      mögliche militärische Dimensionen des iranischen Atomprogramms.
Zwischen dem 17. und dem 24. September wurden zwei richtungsweisende Vorschläge zur Lösung dieser Konfliktpunkte bekannt:
1. Ein nicht durchsetzbarer Vorschlag
Nach einem Bericht der New York Timesvom 19. September 2014 soll Washington den Iranern bereits im August einen neuen Vorschlag gemacht haben. Darin sei die ursprüngliche Forderung der USA nach einer erheblichen Reduktion der Anzahl iranischer Zentrifugen von 19.000 auf 1.500 nicht mehr enthalten.

Schwerwasserreaktor in Arak - Jahre lang ein Streitpunkt zwischen dem Iran und dem Westen
Schwerwasserreaktor in Arak – Jahre lang ein Streitpunkt zwischen dem Iran und dem Westen

Der Iran behielte demnach zwar eine größere Anzahl seiner Zentrifugen. Die Verbindungsröhre zwischen ihnen soll jedoch gekappt werden. Die Zentrifugen könnten dann nicht mehr synchron arbeiten. Das Volumen des dort angereicherten Urans wäre dadurch massiv eingeschränkt. Mit dieser Scheinlösung soll den Iranern die Genugtuung gelassen werden, in der Frage der Urananreicherung keine Kompromisse gemacht zu haben. Tatsächlich hätte man mit diesem Vorschlag der Islamischen Republik aber nur eine zahlenmäßig größere, im Endergebnis aber bedeutungslose Zahl von Zentrifugen belassen. Denn ein Optimum an Volumen und Grad der Urananreicherung auch für Kraftwerkzwecke kann nur über miteinander verbundene und synchron arbeitende Zentrifugen erreicht werden. Dieser Vorschlag wird wohl in der vorliegenden Form von den iranischen Verhandlern nicht akzeptiert werden können.
2. Ein aussichtsreicher Vorschlag
Dieser Vorschlag kommt von der Washingtoner Nichtregierungsorganisation “Arms Control Association“ (ACA). Der Ende August entwickelte Vorschlag wurde den Verhandlern am 15. September 2014 vorgelegt. Die Konzeption definiert die Kapazität der iranischen Urananreicherung in einer dreistufigen „Win-Win-Formel”.
Stufe 1: Die Iraner reduzieren zwischen 2015 und 2017/18 die Kapazität ihrer Urananreicherung von 9.400 UTA (Urantrennarbeit in Kilogramm gerechnet) auf 4.500 bis 5.400 UTA. Damit würde die “Breakout-Zeit”, also der Zeitraum, in dem atomwaffenfähiges Uran hergestellt werden könnte, von derzeit zwei bis drei Monate auf neun bis zwölf Monate verlängert. In diesem Zeitraum wird der Iran außerdem kein Uran über 5 Prozent anreichern und das bereits gespeicherte Uranhexafluorid verpulvern. Im Gegenzug erlaubt die Gruppe 5 + 1 die Fortsetzung der Forschung und Entwicklung einer neueren Generation von Zentrifugen.
Die Gruppe '"Islamischer Staat" als atomare Verhandlungsmasse
Die Gruppe ‚“Islamischer Staat“ als atomare Verhandlungsmasse

Stufe 2: Mit Ende der Stufe 1 beginnt die Stufe 2, die bis 2021 dauern soll. In dieser Phase soll den Iranern ermöglicht werden, die Kapazität ihrer Urananreicherung allmählich wieder auf das ursprüngliche Niveau von 9.400 UTA zu erhöhen und die Zentrifugen der ersten Generation durch neuere zu ersetzen. Unter der Bedingung, dass jede neue Zentrifuge die Anreicherung von 10 UTA nicht überschreitet, soll die Forschung und Entwicklung neuerer Zentrifugen erlaubt sein. Die “Breakout-Zeit” soll mindestens fünf bis sechs Monate betragen.
Stufe 3: Die letzte Einschränkungsphase soll von 2026 bis 2031 dauern. In dieser Phase würde die internationale Atomenergie-Agentur ein „umfangreiches Zertifikat“ für das Atomprogramm des Iran ausstellen und das gesamte iranische Atomprogramm für friedlich erklären. Die Anreicherungskapazität des Iran bleibt bei 9.400 UTA. Sollte das angereicherte Uran verbraucht sein, dürfte das Land modernere Zentrifugen aufstellen.
Dieser Vorschlag der „Arms Control Association“ ist vernünftig, denn er berücksichtigt die praktischen Bedürfnisse beider Seiten. Außerdem beantwortet er die in der Vereinbarung vom November 2013 unbeantwortet gebliebene Frage nach realistischen Zeiträumen.
IS-Terroristen als atomare Verhandlungsmasse
Anlässlich seiner Reise zur Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) startete der iranische Präsident Hassan Rouhani einen Marathon an Lobbyarbeit zum Gewinnen von Verbündeten für ein positives Ende der Atomverhandlungen. Rouhanis Rede vor den Delegierten der Generalversammlung am 25. September war kurz, seine Klagen über das Embargo sanft und seine Angriffe auf die Feinde Bashar Al Assads, die den IS-Terrorismus selbst verursacht hätten, vorsichtig. In den drei Tagen zuvor hatte Rouhani Gespräche mit den österreichischen, französischen, türkischen und venezolanischen Präsidenten geführt. Er sprach zum ersten Mal seit 1979 auch mit dem englischen Premier, David Cameron. Rouhani gab amerikanischen Medien zahlreiche Interviews. Er traf den Generalsekretär der UN, sprach mit der diplomatischen Elite der USA und den TopberaterInnen des Weißen Hauses, mit Madeleine Albright, Sandy Berger, Brent Scowcroft, Steve Hadley, James Dobbins und dem beratenden Gelehrten Vali Nasr.
Seine eigentliche UN-Rede hielt der Rouhani jedoch am Vorabend in einer anderen Runde: vor den geladenen Gästen des Washingtoner Thinktanks “New American”. Hier bekundete er etwa: „Unsere Politik ist die Vermeidung von unnötigen Spannungen mit den USA”, oder auch: „Wichtiger als die atomare Einigung ist das gute Klima, das dadurch für die Zusammenarbeit beider Völker entsteht”. Der Hauptsatz aller seiner Reden war aber: „Sollte in der atomaren Frage eine endgültige Einigung erzielt werden, würde die Zusammenarbeit verstärkt werden können. Danach kann die Kooperation in der Frage des Kampfes gegen den Terrorismus und Herstellung von Sicherheit und Stabilität in der sensiblen Region des Nahen Osten begonnen werden.”
Alles in allem scheint die Gruppe 5 + 1 sich auf eine vorsichtige Einigung mit den Iranern zuzubewegen. Diese Einigung wird zwangsläufig keine endgültige sein. Sie schafft aber die Voraussetzungen für die Integration des Teheraner Regimes in den Kampf gegen den IS in Irak und Syrien. In New York muss Rouhani unter den möglichen Lösungen für jeden Konfliktpunkt eine auswählen – nicht allein, sondern im Einverständnis mit der Führung der Gruppe 5 + 1. Geschieht dies, wird man ruhig auch die nächsten zwei Monate abwarten können. Hoffentlich trügen die positiven Anzeichen nicht!

MEHRAN BARATI

Dr. Mehran Barati ist einer der exponierten Oppositionellen aus dem Iran. Er ist regelmäßiger unabhängiger Analyst auf BBC Persian und VOA (Voice of America) Persian und gilt als Experte für internationale Beziehungen.

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