Die Zeiten der Leichenfledderei sind vorbei

Viele Iraner ziehen eine direkte Verbindung zwischen ihrer täglichen Misere und dem Krieg in Syrien. Immer, wenn es in iranischen Städten zu Unruhen kommt, ruft die Menge: „Lasst Syrien, denkt an uns!“ Viele Trauerfeiern für in Syrien Gefallene finden deshalb inzwischen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Revolutionsgarden und die Basidji, die Paramilitärs, bleiben dabei mit gutem Grund lieber unter sich.
Von Ali Sadrzadeh
Wir sind durch die Trauer am Leben“ (“ما به عزا داری زنده ایم „).
Dieser Satz ist fast vierzig Jahre alt. Er stammt vom Gründer der Islamischen Republik Iran, Ayatollah Ruhollah Khomeini. Und er ist nicht bloß ein einfacher Satz, sondern ein ganzes Programm: das Fundament, auf dem der Propagandaapparat des Gottesstaates errichtet ist.
Laut Lachen verboten
Der Satz war und ist prägend für die Kultur-, die Innen- und die Außenpolitik des Iran. Er sollte identitätsstiftend und mobilisierend wirken. Und das hat funktioniert.
Als Khomeini diesen Satz aussprach, war der iranisch-irakische Krieg gerade einen Monat alt. Es war der Beginn einer Zeit, in der täglich immer mehr Leichen der Gefallenen dieses Krieges in entlegenen Städten und Dörfern eintrafen. Doch deren Begräbnisse, die Trauermärsche, die Prozessionen der Klagenden sollten nicht Schwäche, sondern Standhaftigkeit demonstrieren. Der Totenfeiern sollten Demonstrationen gemeinsamer Widerstands-, Kampf- und Opferbreitschaft sein.
Und man konnte reichlich üben. Mehrere hunderttausend Mal, landesweit, acht Jahre lang. Das Land sollte zwar trauern, aber stets bereit für den Märtyrertod sein. Sonst wäre es nicht widerstandsfähig. Und alles, was diese besondere und ernsthafte Traurigkeit in Frage stellte, musste deshalb aus der Öffentlichkeit verschwinden: Musik, Tanz, sogar lautes Lachen; kurzum alles, was Freude macht.
Eine Trauerkultur für die Ewigkeit
Die schiitische Religion ist eine Trauerreligion. Sie bietet genug Anlässe dazu: Jahr für Jahr muss man elf Imame beweinen, die alle von Feinden ermordet worden sein sollen. Der zwölfte und letzte Imam verschwand in der „großen Verborgenheit“. An der Spitze dieser Märtyrer steht Hossein, der dritte Imam, dessen Schrein in der irakischen Stadt Kerbela alljährlich das Ziel mehrerer Millionen Pilger ist. Um Hossein, سیدالشهدا, den Herrn aller Märtyrer, der in einer blutigen und brutalen Schlacht ermordet wurde, trauert man jedes Jahr sogar zwei Monate lang.

Muharram (dieses Jahr vom 25. Oktober bis 22. November) ist der erste Monat des islamischen Kalenders. Für die Schiiten hat dieser Monat eine besondere Bedeutung, weil Hussein ibn Ali, der dritte Imam der Schiiten und Enkelsohn des Propheten Mohammad, während des Muharram in der Schlacht von Karbala (680 n. Ch.) getötet wurde. In dem Trauermonat tragen die gläubigen Schiiten schwarz und es gibt überall im Iran Feierlichkeiten, deren Höhepunkt das Aschura-Fest ist. In der Aschura-Nacht stellen die Schiiten das Martyrium Husseins als Schauspiel dar. Dabei fügen sie sich mit Geißeln, Messern und Schwertern tiefe Wunden zu.
Selbstgeisselung mit Schlamm für Hussein, den dritten Imam der Schiiten, im Iran 

 
Und bei all diesen zahlreichen Trauerzeremonien bleibt man keineswegs nur der Vergangenheit verhaftet. Die Trauertage finden ihre Entsprechungen im Jetzt und Heute; die Islamische Republik verleiht den historischen Ereignissen einen neuen, aktuellen Sinn – ein Update.
Blutroter Faden durch 1.400 Jahre
Denn bei den Trauerfeiern für die Gefallenen der Gegenwart ziehen die Prediger und Propagandisten stets einen blutroten Faden des Märtyrertods durch die vierzehnhundert Jahre lange schiitische Geschichte. Und alle starben und sterben demnach immer noch für ein- und dieselbe Wahrheit. Selbst die Schlachtfelder dieses Martyriums haben sich kaum verändert: Sie liegen, wie in den vergangenen Jahrhunderten, weiterhin im Irak und Syrien.
Wie viele Iraner im aktuellen syrischen Krieg tatsächlich getötet wurden, darüber gibt es keine offizielle Statistik. Man muss einzelne Meldungen aus unterschiedlichen Quellen zusammenzählen, um auf eine genaue Zahl zu kommen. Namen und Zahlen geben die Behörden nur dann bekannt, wenn sich unter den Gefallenen hohe Offiziere der Revolutionsgarden befinden.
Kriegsmonopol der Revolutionsgarden
Was die Islamische Republik in Syrien genau tut, wissen nur Eingeweihte und ausländische Geheimdienste. Die Berichterstattung darüber steht – wie alles, was der Iran in diesem Krieg tut – unter völliger Kontrolle der Revolutionsgarden.
Auch bei den Trauerzeremonien für die Gefallenen in der Heimat führen die Garden Regie. Sie bestimmen die propagandistischen Dimensionen der Begräbnisse. Inzwischen hat sich aber etwas Grundsätzliches verändert: Mit den Totenfeiern lässt sich keine Mobilisierung mehr erreichen.
Israel bestimmt Trauerfeier für Gefallene
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