Die iranische Gesellschaft im Alterungsprozess

In den ausländischen Medien wird der Iran als eine „junge Gesellschaft“ bezeichnet. Doch der demografische Wandel schreitet auch dort voran. Mehr als sechs Millionen IranerInnen sind älter als 65 Jahren. Ihre Zahl steigt rasant und ihre Situation verschlechtert sich zunehmend.
Der Iran entfernt sich zunehmend von der Tradition der Großfamilie. Die Folge davon ist, dass immer mehr SeniorInnen von ihren Kindern oder Enkelkindern in Seniorenheime „abgeschoben“ werden, stellt Hosein Nahwinejad, Vorstandsvorsitzender des „Nationalen Rats der Senioren“ fest. „Außerdem werden alte Menschen im Iran immer stärker diskriminiert“, berichtet Nahwinejad. Als eklatantes Beispiel nennt er die medizinische Behandlung älterer Patienten: „Ärzte lernen, wie man Kinder oder Jugendliche behandeln soll, aber nicht alte Menschen“. Seiner Beobachtung nach wüssten die Ärztinnen und Ärzte, „die Senioren behandeln, oft viel zu wenig von Krankheitsbildern der älteren Patienten und der Koordination unterschiedlicher Medikationen“. Auch der Teheraner Psychologe Gholamhosein Motamedi sieht einen Wertewandel in der iranischen Gesellschaft: „Bis vor einigen Jahren  wurden die Älteren aufgrund ihrer Lebenserfahrung respektvoll behandelt, nun werden sie sogar gehänselt.“
Jüngsten offiziellen Angaben zufolge sind acht Prozent der IranerInnen älter als 65 Jahre – in Deutschland: etwa 21 Prozent. Experten rechnen damit, dass sich die Zahl der iranischen SoniorInnen im Jahr 2026 verdreifacht.
Zunehmende Armut, sinkender Respekt

"Teherans Straßen, ein Alptraum für die alten Menschen"
„Teherans Straßen, ein Alptraum für die alten Menschen“

Am meisten leiden die RenterInnen in der Islamischen Republik unter der rasant steigenden Inflation. Viele von ihnen sind auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Über 25 Prozent der SeniorInnen hätte weder Renteneinkommen noch Krankenversicherung, insgesamt  20 Prozent lebten unter der Armutsgrenze, kritisiert Nahwinejad. Dafür macht er die zuständigen Ämter verantwortlich: „Das größte Hindernis für die Verbesserung der Lage der Senioren ist das Gesundheitsamt, das nichts gegen die Missstände unternimmt und keiner anderen Organisation erlaubt, im Bereich der Altersvorsorge ernsthafte Schritte zu unternehmen.“
Laut Angaben des iranischen Wohlfahrtverbandes „Behzisti“ leben 86 Prozent der SeniorInnen mit ihren PartnerInnen, 29,2 Prozent mit ihren Kindern oder Enkelkindern und nur 7,3 Prozent allein. Dabei sind alleinstehende Frauen in der Mehrzahl. In Teheran leben rund 1 Million SeniorInnen.
Ein Alptraum
"Immer mehr alte Menschen werden in die Seniorenheime abgeschoben!"
„Immer mehr alte Menschen werden in die Seniorenheime abgeschoben!“

Die Hauptstadt gilt als „modernste Stadt“ des Iran „mit besseren Möglichkeiten in jeder Hinsicht“. Doch in Bezug auf Dienstleistungen für die SenorInnen ist sie im Grunde auf dem gleichen Niveau wie die meisten anderen Großstädte des Landes. Die öffentlichen Einrichtungen und Gebäude sind nicht Seniorengerecht ausgestattet. Im Nahverkehr verfügt Teheran zwar über U-Bahn und Linienbusse, doch wenige U-Bahnhöfe haben funktionierende Fahrstühle oder Rolltreppen und die meisten Bushaltestellen verfügen über keine Sitzbänke. Auch die Mehrzahl der Übergangswege und Fußgängerbrücken sind für ältere Menschen ungeeignet – zu steile Treppen, löcherige Böden und viel zu schmale Trottoirs für zu viele Menschen. Die Straßen sind überfüllt mit Fahrzeugen, deren Fahrer die wenigen Zebrastreifen nicht beachten. Und die  Fußgängerampeln sind in der Regel sehr weit voneinander entfernt, so dass allein das Überqueren der Straßen für die Älteren lebensbedrohliche Risiken birgt. Nicht ohne Grund schrieb der „Club der iranischen Reporter“ am 1. Oktober: „Das Überqueren der Teheraner Straßen ist für die SeniorInnen zum Alptraum geworden“.
Shiva Irani
Aus dem Persischen: Said Shabahang