Die zwiespältige Rolle der Geistlichkeit in der Islamischen Republik

Bei der Errichtung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979 war sich die dortige Geistlichkeit noch einig. Doch nach und nach trennten sich hohe Geistliche von der Macht und wurden zu Gegnern der Machthaber. Der renommierte Theologe Hassan Yousefi Eshkevari beschreibt die Geschichte einer zweckgebundenen Einigkeit, die im Entstehen einer zerstörerischen Bande endete.
Die Geschichte, auch die iranische Gesichte, zeigt, dass Religion und deren Vertretung, die Geistlichkeit, in der Auseinandersetzung mit der politischen Macht, also dem Staat und dem Herrschaftsapparat, lange eine sehr wichtige Rolle innehatte – und zwar seit der Zeit der antiken Sassaniden über die Zeit des Islams bis in unsere Tage hinein.
Obwohl sich diese Beziehung stets im Namen der Religion vollzog, ist es doch so, dass die Religionen immer wieder durch neu interpretiert werden und dass es diese Interpreten sind, die im Namen Gottes und des Propheten, der Sharia und ihrer Prinzipien und Grundlagen sprechen und in der Gesellschaft und der Politik und der Macht aktiv werden – und nicht Gott und sein Prophet.
Diese Protagonisten werden in den verschiedenen Religionen als Rabbiner, Magier, Tempelpriester, Pfarrer, Geistliche oder Mullahs bezeichnet. Ihre gesellschaftlichen und religiösen Rollen sind jedoch überall ähnlich. Auf politischem Gebiet, also auf dem der Macht, hat die Geistlichkeit stets zwei Rollen ausgefüllt. Anfangs haben sie Herrschern und Gründern von Staaten religiöse und politische Legitimation verliehen und sind später, wenn es um die Fortdauer und um das Überleben der Herrschaft und des Staates ging, eine Symbiose oder mindestens eine enge Zusammenarbeit mit den Herrschern eingegangen.
Gleichzeitig aber existierte zwischen den politischen und den geistlichen Machtorganen immer auch eine gewisse versteckte und manchmal auch offene Konkurrenz. So schuf die Geistlichkeit in manchen historischen Situationen den Boden für den Sturz einiger Herrscher oder gar Dynastien. Die Historie bezeugt allerdings auch, dass solche Konfrontationen sich zumeist im Rahmen der Vertretung eigener Machtinteressen abspielte und nicht notwendigerweise zur Sicherung religiöser oder nationaler Interessen.
Schaffung eines neuen Systems
Yousefi EshekvariDas jüngste Beispiel dieser Doppelrolle in der Auseinandersetzung zwischen Geistlichkeit und Staat ist überaus interessant und lehrreich. Es kann für einen künftigen Iran und für die Bewusstseinentwicklung aller Demokraten und Aktivisten der zivilen und der Menschenrechtsbewegung von Bedeutung sein.
Es ist klar, dass die schiitische Geistlichkeit Irans und des Irak bei der Gründung des religiösen Systems der Islamischen Republik und der Installierung des Modells der „Herrschaft eines Rechtsgelehrten“ (Velayate Faghih) eine wichtige Rolle spielte und auch danach, in der Phase der Konsolidierung, bis in unsere Tage hinein entscheidenden Anteil hatte. Dass sie diese Rolle spielen konnte war aus mehreren Gründen möglich: Einmal durch die Schaffung einer religiös-politischen und revolutionären Bewegung unter massiver und bis dahin nicht gekannter Beteiligung der hohen Geistlichkeit. Zum zweiten mit der Autorität eines führenden und als Vorbild fungierenden Geistlichen. Und durch die standhafte Fortführung dieser Bewegung, bis sie sich in eine allgemeine und umfassende Bewegung verwandelte und schließlich in eine Revolution mündete, die das monarchistische System stürzte. Dazu kam die Präsentation eines speziellen Herrschaftsmodells: der Gründung eines politischen Systems unter dem Namen „Velayate Faghih“ – Herrschaft des Rechtsgelehrten -, das in einer spannungsgeladenen Zeit der Revolution aufkam und nach deren Sieg von der Mehrheit der Bevölkerung angenommen und in einer gesellschaftlichen Sondersituation zum Gesetz wurde.
Gleichzeitig spielte die Präsenz einer charismatischen geistlichen und revolutionären Persönlichkeit wie die Ayatollah Khomeinis eine wichtige Rolle. Er wurde zum unzweifelhaften Führer der Revolution, akzeptiert nicht nur von den religiösen Kräften, sondern auch von der linken Guerilla. Seine uneingeschränkte Führung stand Modell beim Entwurf des Modells „Velayate Faghih“ – nicht die Haltbarkeit oder Praktikabilität eines solchen Modells religiöser Herrschaft.
Zweckgebundene Einigkeit
Aber auch in der Islamischen Republik wiederholte sich jene historische Doppelrolle der Geistlichkeit gegenüber dem politischen Herrschaftsapparat. Während zu Beginn und während des politischen und revolutionären Widerstands der Geistlichkeit von 1963 bis 1978 die Mehrheit der Geistlichen und hochgestellten Theologen schwieg oder gar dagegen war, beteiligten sich in der Zeit der Revolution, im zweiten Halbjahr 1978, fast alle Theologen und Geistlichen am Widerstand auf den Straßen. Nach dem Sieg der Revolution sahen sie sich als deren unumschränkte Erben an und nahmen bei der Gründung des neuen Systems die Hauptrolle in Anspruch. Die Schwäche der Zivilgesellschaft, intellektuelle Defizite und die Unfähigkeit und Zerstrittenheit der nicht-religiösen Intellektuellen und Widerstandskämpfer waren bei der Entstehung dieser alternativlosen Rolle ebenfalls wirksam.
Erste Phase der Trennung
Die zwiespältige Rolle der Geistlichkeit gegenüber dem Herrschaftsapparat hat sich jedoch von Anfang an gezeigt. Einerseits haben eine Reihe von Theologen und Geistlichen bei der Gründung des Systems und der Legitimierung des Staatsmodells des „Velayate Faghih“  nicht mitgemacht und sich aus verschiedenen Gründen heraus – die allerdings meistens frei von jeglichen Freiheits- oder Demokratiegedanken waren – zurückgezogen (wie Ayatollah Said Ahmad Khansari) oder sie haben offen opponiert und sind in kürzester Zeit mit Gewalt beseitigt worden (wie etwa Ayatollah Seyed Kazem Shariatmadari).
Einige hohe Geistliche, die mit dem neuen System sympathisierten und in gewisser Weise ihren Legitimationsstempel unter die Islamische Republik drückten, wurden nach und nach und aus verschiedenen Motivationen heraus zu offenen oder versteckten Kritikern der Vorgehensweise der Verantwortlichen des Staates, sogar der des Ayatollah Khomeini.
Zu ihnen zählen beispielsweise Ayatollah Golpaygani und Ayatollah Najafi Marashi. Diese – nach dem schiitischen Brauch zum Vorbild auserkorenen – Theologen waren niemals mit dem Staatssystem der „Führung des Rechtsgelehrten“ – zumindest in der Auslegung Khomeinis und der Anhänger seiner Linie – einverstanden. Sie hatten jedoch aus gewissen politischen und genossenschaftlichen Gründen heraus Khomeini und die Islamische Republik verteidigt.
Eine Persönlichkeit wie Ayatollah Montazeri aber, der zur revolutionären und Widerstand leistenden Geistlichkeit gehörte und das System der „Führung des Rechtsgelehrten“ ganz und gar verteidigte und nach der Revolution das wichtigste und umfassendste Buch über dessen Aufbau schrieb, schloss sich bereits Anfang der achtziger Jahre den Kritikern des Systems und der Herrscher, von der Führung bis hin zu anderen Verantwortlichen, an. Eine Kritik, die schließlich dazu führte, dass er aus den politischen Herrschaftsstrukturen ausgeschlossen wurde.
Offene Kritik
Trotz alledem war die Kritik im ersten Jahrzehnt der Revolution erstens nicht offen und allgemein getragen und zweitens keine Kritik, die die Legitimation des gesamten Systems in Frage gestellt hätte. Nach dem Tod von Ayatollah Khomeini und der Machtergreifung von Ayatollah Khamenei wurden die Gegnerschaft und auch die Infragestellung der Legitimität des Systems seitens der Geistlichkeit sowohl schärfer als auch offener.
Einer der Gründe dafür war die nicht hinreichende Legitimierung Khameneis als Theologe aus der Sicht des schiitischen hohen Klerus. Daher wurde in dieser Periode von allen Seiten Kritik laut. Insbesondere Ayatollah Montazeri verstärkte diese ernsthaften Bedenken zur Illegitimität. Seine Reden im Jahre 1997 und die Aberkennung der theologischen und religiös-rechtlichen Legitimität vom „Führer des Systems“ stellten einen wichtigen Wendepunkt dar.
Die Geistlichkeit und der „Ahmadinedschadismus“
Mit der Regierung Ahmadinedschads im Jahre 2005 verschärfte und vertiefte sich diese zwiespältige Entwicklung. Bei den neunten Präsidentschaftswahlen hat außer Mesbah Yazdi kein anderer zum Vorbild erkorener oder auch hochgestellter Geistlicher Ahmadinedschad unterstützt. Nach dessen Sieg aber und nach der Bildung der neunten Regierung unterstützte der dem System zugehörige Klerus mehr oder weniger die Regierung Ahmadinedschads, während die alten Kritiker ihre Kritik erneuerten und diejenigen, die geschwiegen hatten, weiterhin schwiegen.
Diese Unterstützung ist auf zwei Faktoren zurückzuführen. Erstens gab es eine unverzügliche und kontinuierliche Unterstützung der Regierung und der Person des Regierungschefs seitens des Staatsführers Khamenei und zweitens die Hoffnung, die in die neunte Regierung und in die Person Ahmadinedschads gesetzt wurde. Diese Hoffnung beruhte auf zwei Faktoren: Einmal der Diskurs über eine gemäßigte Religion und Sharia und zweitens die Hoffnung auf eine bessere Machtausnutzung und einen besseren Zugang zu den reichlichen und geradezu endlosen materiellen und geistigen Ressourcen der Regierung unter den neuen Bedingungen.
Die Geistlichen merkten aber sehr bald, dass zumindest ein Teil ihrer Erwartungen an Ahmadinedschad irrig war. Trotz der Tatsache, dass in dieser Periode mehr als je zuvor dem Klerus und seinen zum System gehörigen Organen finanzielle Zuwendungen zuflossen, wurde auch klar, dass Ahmadinedschad und sein Team aus ideologischer und religiöser Sicht keinesfalls mit der islamischen Ideologie und den Traditionen der Schia und der Theologischen Schule übereinstimmten und daher den theologischen und politischen Richtlinien der Theologen und Geistlichen wenig Gehör schenkten und ihnen sogar den gewöhnlichen Respekt versagten.
Vertreter des „Imam der Zeiten“ (1)
Im Diskurs des „Ahamadinedschadismus“ findet sich eine ganz spezielle Eschatologie, die Ergebnisse zutage gefördert hat, die mit dem Gedankensystem und dem Diskurs der traditionellen Theologen und Geistlichen nicht übereinstimmen. Dabei gibt es drei Punkte, die auffallen:
–         Erstens die Negierung der schiitischen und islamischen Rechtslehre,
–         zweitens und daraus folgend die Negierung der Monopolstellung der Rechtsgelehrten als Mittler und Stellvertreter des „Imam der Zeiten“ und
–         drittens die Legitimierung des Machtanspruchs und der Erlangung der politischen Macht durch Inszenierungen über die Ankunft des „Imam der Zeiten“.
Diese Gruppe  – oder im Grunde genommen Bande – ist in der Verfolgung ihrer Ziele so skrupellos, dass sie bis dato fast alle religiösen und politischen roten Linien des Staatsystems überschritten hat. Sie benutzt alle gesellschaftlichen und religiösen Gegebenheiten, um ihre Ziele zu erreichen. Angefangen von der Hinwendung zur Antike und den Bemühungen, die Gegner und Kritiker des Systems unter den Frauen, Jugendlichen und Nationalisten für sich zu gewinnen, über die alljährliche aktive Teilnahme an der Vollversammlung der UNO, um von dieser Tribüne aus der Welt gegenüber für ihre Verheißungen zu werben und die Bereitschaft zu erklären, als neue Sprecher des verborgenen Imam die Organisation der Weltpolitik zu übernehmen, bis hin zur zügellosen Ausbeutung der staatlichen wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen und bis schließlich auch zur Aufgabe jeglicher ethischer Prinzipien durch permanente und offensichtliche Lügen.
„Eine zerstörerische Bande“
Soweit ich das sehe, gab es in der iranischen und in der islamischen Geschichte bis dahin keine vergleichbare Bande, die so zerstörerisch und amoralisch gewirkt hätte. Es scheint, dass die Theologen vorzeitig diese gegen den Klerus und die theologische Rechtslehre gerichtete Politik des „Ahmadinedschadismus“ gewittert und sie kritisiert haben.
Aber entweder hat Herr Khamenei die Ideologie und die Pläne dieser Strömung zu spät erkannt oder er ist weiterhin auf die Hilfe Ahmadinedschads angewiesen gewesen, um seine despotischen Ziele zu erreichen und hat ihn daher weiter unterstützt und ihn sogar bei den Präsidentenwahlen im Jahre 2009 zu einem hohen Preis wieder auf den Sessel der Macht gehoben.
Auf jeden Fall ist gegenwärtig klar, dass diese Strömung, die in gewisser Hinsicht zurecht als abweichlerisch bezeichnet wird, mit dem Rechtsgelehrtensystem der Geistlichkeit und des Systems des „Velayate Faghih“ im Widerspruch steht, denn, wie es in einer Redewendung heißt: „Zwei Könige passen nicht auf einen Thron!“
Allerdings darf hier nicht der Fehlschluss gezogen werden, dass die kritische oder gar oppositionelle Rolle der Mehrheit der Geistlichen gegenüber der Islamischen Republik gleichzusetzen sei mit dem Wunsch nach Demokratie, Freiheit oder rechtliche Gleichheit im modernen Sinne.
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(1)  „Imam der Zeiten“, Mahdi genannt, ist nach schiitischer Glaubensauffassung, der Messias, der in der Endzeit zurückkehrt, um Gerechtigkeit zu schaffen.
Zur Person:
Hassan Yussefi Eshkevari, geb. 1950, ist Theologe und Schriftsteller und einer der bekanntesten Kritiker der Islamischen Republik Iran. Er nahm als Geistlicher an der Berliner Heinrich-Böll-Konferenz über den Iran im März 2000 teil und äußerte sich dort kritisch über das Regime. Nach seiner Rückkehr nach Teheran wurde er verhaftet und in einem geheimen Prozess zuerst zum Tode und später zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Zurzeit lebt er im Ausland.
Der obige Beitrag ist Eshkevaris Rede auf der Konferenz von Transparency for Iran in Berlin am 11. November 2011.