Sünden im Gottesstaat

Sex vor der Eheschließung hat nicht stattzufinden, so der Wille der religiösen Autoritäten im Iran. Jüngste Forschungen belegen jedoch, dass die Bevölkerung der Islamischen Republik mit ihrer Sexualität ganz anders umgeht, als den Herrschenden lieb ist.  

„Man kann die Menschen nicht mit Zwang ins Paradies schicken“, hatte der als moderat geltende iranische Staatspräsident Hassan Rouhani im Mai gesagt und sich dafür ausgesprochen, weniger ins Privatleben der IranerInnen einzugreifen. Er hat damit ein wichtiges Thema berührt. Denn in der Islamischen Republik herrscht eine große Kluft zwischen dem Anspruch der religiösen Autoritäten und der Lebensrealität der Bevölkerung des so genannten Gottesstaates. Wie wenig diese trotz der 35-jährigen Herrschaft des autoritär-religiösen Regimes dessen Werte tatsächlich angenommen hat, zeigt eine jüngst veröffentlichte Studie des Bildungsministeriums. Ihr Forschungsobjekt: das Sexualleben iranischer MittelstufenschülerInnen.
Gelebte Sexualität
Knapp 18 Prozent der 141.555 SchülerInnen, die 2007 und 2008 an der Studie teilgenommen haben, haben demnach bereits homosexuelle Erfahrungen gemacht. Irans Ex-Präsident Mahmud Ahmadinedschad hatte noch im September 2007, während die Studie bereits im vollem Gang war, in einer Rede an der New Yorker Columbia University für Gelächter gesorgt, als er behauptete, dass es in der Islamischen Republik keine Homosexualität gebe.

Die Zahl der sexuell aktiven IranerInnen, die noch die Schule besuchen, soll sich in den vergangenen Jahren verdreifacht haben!
Die Zahl der sexuell aktiven IranerInnen, die noch die Schule besuchen, soll sich in den vergangenen Jahren verdreifacht haben!

74 Prozent der Befragten gaben an, schon einmal mit dem anderen Geschlecht intim geworden zu sein. Dabei sind voreheliche körperliche Beziehungen im Iran strafbar und die Schulen geschlechtlich getrennt.
Das Ergebnis der Studie zeige nur „die Spitze des Eisbergs“, hieß es aus der Forschungsabteilung des iranischen Parlaments, die die Untersuchung kürzlich veröffentlichte. Es ist also davon auszugehen, dass der Prozentsatz der sexuell aktiven SchülerInnen sogar noch höher ist, als die Studie vermuten lässt. Auch andere nun publik gewordene Umfragen belegen, dass ein Großteil der Jugendlichen im Iran seine Sexualität trotz aller Verbote auslebt: 80 Prozent der Befragten einer Studie der Teheraner Allameh-Tabatabaei-Universität, die an mehreren Teheraner Mädchenschulen durchgeführt wurde, gaben an, mit einem Jungen „körperliche Nähe“ erlebt zu haben. „Aus den Zahlen, die uns zur Verfügung stehen, geht hervor, dass 40 Prozent der Jugendlichen bereits mit 14 Jahren erste sexuelle Erfahrungen gesammelt haben. Schon Fünftklässler werden heute im Iran körperlich intim. Insgesamt hat sich die Zahl der sexuell aktiven IranerInnen, die die Schule noch nicht abgeschlossen haben, in den vergangenen Jahren verdreifacht“, sagt Mahmud Golzari, Professor für Psychologie an der Allameh-Tabatabaei-Universität.
Missachtung religiös-konservativer Werte
Forschungsabteilung des iranischen Parlaments: Armut treibt immer jüngere Mädchen in die Prostitution
Forschungsabteilung des iranischen Parlaments: Armut treibt immer jüngere Mädchen in die Prostitution

Dass sich viele Iranerinnen kaum an die religiös-konservative Werte halten, die in der Islamischen Republik propagiert werden, zeigt auch eine Statistik, die kürzlich von der Cyberabteilung der iranischen Revolutionsgarde veröffentlicht wurde. In keiner anderen Großstadt der Welt wurden während des für Schiiten heiligen Trauermonats Moharram so häufig Internetseiten mit sexuellen oder pornographischen Inhalten abgerufen wie in der iranischen Hauptstadt Teheran. Die Stadt Shiraz belegt auf einer Liste mit 182 Großstädten Platz 15.  
Und die Forschungsabteilung des iranischen Parlaments hat noch mehr Informationen veröffentlicht: Armut treibt immer jüngere Mädchen in die im Iran illegale Prostitution; die jüngsten in Teheran aufgegriffenen Sexarbeiterinnen waren erst 15 Jahre alt; elf Prozent der Prostituierten in der iranischen Hauptstadt arbeiten mit dem Wissen ihres Ehemannes in der Branche.
Verantwortung für die Missstände, die Frauen zur Prostitution zwingen, möchte im Gottesstaat freilich niemand übernehmen: Die meisten iranischen Prostituierten würden von westlichen Fernsehprogrammen dazu animiert, ihre Körper zu verkaufen, verbreiten konservative Medien.
Sexuelle Belästigung
Die Erkenntnisse legen nahe, dass es das iranische Regime seit dem Sieg der Revolution 1979 nicht geschafft hat, vermeintliches sexuelles Fehlverhalten auszumerzen. Und auch nicht das tatsächliche: 60 Prozent der Iranerinnen geben an, mindestens einmal in ihrem Leben sexuell belästigt worden zu sein. Aus einer Befragung von 280 Frauen, die Opfer sexueller Gewalt waren, geht zudem hervor, dass 13 Prozent von ihnen in der Vergangenheit geschwiegen haben, wenn sie „unsittlich berührt“ wurden.
Angesichts von derlei Schreckensmeldungen sei es eine Farce, dass Konservative sich darüber empörten, wenn iranische Frauen enge Leggins oder lockere Kopftücher trügen, echauffierte sich jüngst der iranische Kulturminister Ali Jannati über die konservative Opposition: „Die Moral in diesem Land geht den Bach herunter“, so Jannati: „Doch die Konservativen kennen nur ein Weiter So.
  SEPEHR LORESTANI
  Übersetzt und überarbeitet von JASHAR ERFANIAN