Rütteln an Grundfesten: Exil-Theologen verunsichern die Ayatollahs

Mohammed ein Träumer und der Koran nur seine Traumerzählung? Würden ein Atheist, ein Agnostiker, ein westlicher Orientalist oder ein Ex-Muslim eine solche Ungeheuerlichkeit in die Welt setzen, würde die schiitische Geistlichkeit dies ignorieren oder höchstens achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Denn von solchen Gegnern hätte man nicht anderes zu erwarten, und wollte man alles widerlegen, was derzeit weltweit und pausenlos gegen den Islam geschrieben und gesagt wird, bräuchte man eine Armee von Gelehrten und Autoren.
Doch die These kommt von einer Seite, die man nicht ignorieren kann. Deshalb ist die Idee vom Traum des Propheten für schiitische Gelehrte zu einem Alptraum geworden. Seit drei Jahren ist mit ihr eine Unruhe entstanden, die sich nicht legen will. Niemand kommt daran vorbei, kein Philosoph, kein Theologe oder Gelehrter. Großayatollah Makarem Schirazi, der einflussreichste Gottesmann des Iran, musste gar ein ausführliches Gutachten über diese „abtrünnige und feindliche“ These verfassen.
Und dennoch nimmt die Debatte kein Ende. Täglich sieht sich jemand berufen, mit einem neuen Argument etwas dazu beizutragen, dafür oder dagegen. Googelt man die beiden Worte „رویای رسولانه “ (royaye rassulaneh, deutsch: prophetischer Traum), ahnt man, welche Unruhe und Unsicherheit vor allem innerhalb der schiitischen Geistlichkeit herrscht.
Warum aber dreht sich diese Kontroverse seit drei Jahren wie eine Spirale weiter, die immer neue Wendungen nimmt? Die Antwort: Weil der Urheber der ihr zugrunde liegenden These Abdolkarim Soroush heißt – und eine Institution ist. Denn für einen schiitischen Gelehrten ist das WER stets wichtiger als das WAS. Bevor man sich dem Inhalt eines Axioms zuwendet, muss man fragen, wer es geäußert hat. Daher ist die „علم الرجال“ (elm al redajl, deutsch: Wissenschaft der Männer) Pflichtfach für jeden Geistlichen: erst der Bote, dann die Botschaft.
Eine Autorität schlechthin

Abdolkarim Soroush - sorgt für Wirbel unter den schiitischen Gelehrten
Abdolkarim Soroush – sorgt für Wirbel unter den schiitischen Gelehrten

Und Soroush ist im gegenwärtigen Schiismus ein Bote, den niemand ignorieren kann. Manche nennen den 72-Jährigen den Martin Luther des Islam, für das Times Magazin gehört er zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Bis zu seinem unvermeidlichen Exil vor zwanzig Jahren war Soroush DER Philosoph der islamischen Republik. Republikgründer Khomeini lobte seine Bücher und berief  ihn zum Mitglied des „Stabs für die Kulturrevolution“. Solange er im Iran war, hielt Soroush nicht nur an den modernen Universitäten des Landes Vorlesungen, sondern auch für die Ayatollahs. StudentInnen der Orientalistik schreiben über ihn Abschlussarbeiten, er ist Gegenstand der Forschung in der Islamwissenschaft.
Seit seinem erzwungenen Exil hört und liest man in seinen Worten und Texten allerdings so etwas wie das Aufatmen eines Befreiten, physisch und geistig. Die Adressaten seiner aufrüttelnden Thesen sind weniger die ExiliranerInnen als vielmehr die schiitischen Geistlichen in seiner Heimat, deren Sprache und Denkweise er bestens kennt. Soroushs Traumthese ist nicht die einzige Idee, mit der er an den Glaubensgrundsätzen der Mehrheit der Muslime rüttelt.
„Tribale Erfahrungen“
Soroush schreibt: „Die Sprache des Koran ist rein menschlich und weltlich. Gott sprach nicht, er schrieb auch kein Buch. Es war ein historischer Mensch, der in Gottes Namen sprach. Und die göttliche Eingebung war nichts anderes als Mohammeds persönliche Erfahrung. Seine Beschreibung von Diesseits und Jenseits fußt ausschließlich auf seiner tribalen Erfahrung in Saudi-Arabien vor 1.400 Jahren.“ Nach Soroush ist der Koran ein genaues Spiegelbild von Mohammeds psychischer Verfassung. „Wir begegnen im Koran Höhepunkten und Niedergängen. Wo der Prophet sich wohlfühlt, ist auch der Text erbaulich, erreicht seine bewundernswerte Sprachgewalt und Eloquenz. Und umgekehrt, wo er banal und oberflächlich ist, zeugt er von der Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit seines Autors.“ Mohammeds Wissen entspreche genau dem seiner Zeit, schreibt Soroush, und zählt „die sachlichen Fehler des Korans“ auf, über die man heute lachen könne: „Niemand glaubt heute noch, Meteoriten seien Teufelssteine, der Himmel besitze sieben Decken oder die Berührung des Teufels verursache Wahnsinn.“
Der Theologe äußert sich nicht nur zu theoretischen Fragen. Er meldet sich fast wöchentlich auch zu aktuellen Themen zu Wort. Und jedes Mal stellt er direkt und indirekt die Herrschaft der schiitischen Geistlichkeit in Frage. Denn Soroush ist inzwischen für eine strikte Trennung von Politik und Religion.
„Quellen der Nachahmung“
Fortsetzung auf Seite 3