Das Atomabkommen – Ende der Konfrontation oder Identitätswahrung?

Die politisch-militärische Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika hat zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten des Irans geführt. Die USA brauchen den Iran nun mehr, als Saudi-Arabien ihnen nützen dürfte. Und die Islamische Republik braucht die USA, um den Zusammenbruch ihrer Wirtschaft zu verhindern. Ein Gastbeitrag von Mehran Barati.
In der Physiologie der Nervenzellen gilt das Alles-oder-nichts-Gesetz. Das heißt, um eine Erregungsübertragung zu erreichen, muss lediglich ein kritisches Schwellenpotential überschritten werden. Dabei ist die Intensität der Reizstärke uninteressant, wichtig ist nur die Anzahl der Aktionspotentiale.
So geschah es der politischen Führung der Islamischen Republik Iran, als ihr die Anzahl der “Aktionspotentiale” (sukzessive Anhäufung der Wirtschafts- und Finanzembargos) zu viel wurde und der Zusammenbruch der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung im Iran absehbar war.
Auch für den Westen ging es nicht allein um das Ob und den Grad der noch tolerierbaren Urananreicherung. Es ging auch um die Rolle Irans in der heillos aus den Fugen geratenen Nahostregion. In dieser Situation mussten die Führungskreise der Islamischen Republik strategische Entscheidungen treffen: Sie mussten eine militärische Konfrontation mit den USA und Israel vermeiden, und  die politische Kriegsführung mit den USA und westlichen Staaten beenden.
Pakt mit dem „Großen Satan“

Mehran Barati:„Regime-Change“ im Iran ist für die USA kein Thema mehr, die Frage der Menschenrechte kein Druckmittel!
Mehran Barati:„Regime-Change“ im Iran ist für die USA kein Thema mehr, die Frage der Menschenrechte kein Druckmittel!

Das war naturgemäß keine leichte Entscheidung. Seit 35 Jahren ist die Identität der Islamischen Republik vornehmlich von der Feindschaft gegen die USA als “sheytane bozorg” (großer Teufel) geprägt. Nun soll gerade der Teufel helfen, die Anzahl der Aktionspotentiale (Embargos) dahingehend zu senken, dass das “kritische Schwellenpotential” nicht überschritten wird.
Um eine Entscheidung des Revolutionsführers Ayatollah Ali Khamenei wurde viele Monate gerungen. Schon der frühere Außenminister unter Präsident Mahmud Ahmadinedschad und derzeitiger Chef der iranischen Atomanlagen, Ali Akbar Salehi, hatte den Ayatollah dringend um die Erlaubnis ersucht, mit den USA verhandeln zu dürfen. Über den Erfolg eines solchen Schrittes zeigte sich Khamenei höchst skeptisch, wollte sich aber auch nicht dagegen aussprechen. Mit der Wahl des neuen Präsidenten Hassan Rouhani kamen die Geheimgespräche zwischen den Iran und USA in Gang. Schon vor dem sensationellen Telefongespräch zwischen Obama und Rouhani am 25. Oktober hatte es fünf Geheimgespräche gegeben, vier davon nach der Wahl Rouhanis zum Staatspräsidenten. Dabei ging es nicht allein um die iranischen Atomanlagen. Thema der Gespräche war auch die Rolle Irans in Syrien, Libanon, Irak und Afghanistan.
Noch vor dem Beginn der zweiten Genfer Verhandlungen am 8.11.2013 trafen sich Rouhani und sein Außenminister Sarif mit Khamenei, um das Spektrum der Kompromisse in Genf mit ihm abzustimmen. Dadurch sollte sein mögliches Veto gegen jede künftige Übereinkunft mit der Gruppe 5+1 vermieden werden. Unmittelbar danach bereiteten Rouhani und Sarif mehrere Versionen einer Vereinbarung mit  der Gruppe 5+1 vor, die schon vor dem zweiten Treffen in Genf mit den USA abgesprochen worden waren. Dass es nicht schon bei den Verhandlungen vom achten bis zum elften November zu einer Übereinkunft kam, lag daran, dass die Franzosen als “Grand Nation” nicht die Suppe essen mochten, die USA und Iran ohne sie gekocht hatten. Doch schon zu diesem Zeitpunkt lagen vielleicht nur 20 Prozent des Problems in inhaltlichen Differenzen, Verfahrensprobleme bestimmten den Rest. Die inhaltlichen Differenzen haben zwar nach der israelischen Vermeidungsintervention an Bedeutung gewonnen, an der Entscheidung der USA, in Genf zu einem positiven Abschluss zu kommen, hatte sich jedoch nichts geändert.
Neue stragetische Entscheidung
Es mag vielleicht absurd klingen, doch die politisch-militärische Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika hat zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten des Irans geführt. Die USA brauchen den Iran nun mehr, als Saudi-Arabien ihnen nützen dürfte. Sie führen geheime Gesprächen mit der Hisbollah im Libanon, sie fürchten das Übergewicht der aus Afghanistan und Pakistan nach Syrien eingewanderten terroristischen Salafisten und Dschihadisten, sie sind in Sorge, dass der tödliche Kampf der Sunniten gegen die Schiiten im Irak kein Ende nehmen wird, und sie sind in Sorge um das Ende ihrer nutzlosen Intervention in Afghanistan. Bei all diesen Problemen, von Ägypten ganz zu schweigen, kann Saudi-Arabien keine Hilfe mehr sein, wohl aber der Iran, wenn auch nur in einem beschränkten Umfang.
Unter den genannten Aspekten haben auch die USA bezüglich des Iran eine strategische Entscheidung getroffen. „Regime-Change“ ist kein Thema mehr, die Frage der Menschenrechte kein Druckmittel, Handelserleichterungen, Kapitalinvestitionen und Kooperation im Energiebereich wieder auf der Tagesordnung. Die Übereinkunft vom 24. November 2013 zwischen der Gruppe 5+1 und dem Iran ist ein erster Ausdruck dieser veränderten Politik der USA und ihrer Verbündeten gegenüber der Islamischen Republik.
Schon in weniger als einem Monat soll eine gemeinsame Handelskammer von Iran und USA eröffnet werden. Die Iraner bereiten bereits einen Direktflug zwischen der Freihandelsinsel Kish und New York vor. Die Erlaubnis der iranischen Seite für Joint Ventures mit amerikanischen Partnern wurde ebenfalls erteilt. Auch die EU wird im Dezember mehrere Embargos fallen lassen und den Finanzverkehr zwischen iranischen und europäischen Banken ermöglichen. Der Iran hätte dann zumindest die Möglichkeit, den Importbedarf seiner darniederliegenden Industrie zu decken.
Um das Verhältnis der westlichen Staaten zum Iran endgültig zu ordnen, müsste die Internationale Atomagentur bestätigen, dass der Iran die in Genf übernommenen Verpflichtungen erledigt habe. Dafür ist eine Zeitspanne von sechs Monaten vorgesehen. Die Agentur könnte aber schon in drei Monaten bestätigen, dass wesentliche Teile der Vereinbarungen vom 24. November bereits realisiert wurden, was eine weitere Lockerung der Embargos, insbesondere die vollständige Freigabe des Ölverkaufs mit sich bringen könnte.
Es ist zu hoffen, dass die Führung der Islamischen Republik Iran die Interessen der gebeutelten Bevölkerung des Landes nicht ihrer Identitätswahrung opfert und nach 35 Jahren endlich das Ende ihrer ideologischen Revolution akzeptiert.
   Mehran Barati*
*Der in Arak/Iran geborene Mehran Barati ist einer der exponierten Oppositionellen aus dem Iran, der zurzeit in Berlin lebt. Er ist regelmäßiger unabhängiger Analyst auf BBC Persian und VOA (Voice of America)-Persian. Er gilt als Experte für internationale Beziehungen.