Iran – Hamas: Eine brüchige Freundschaft

Warum greift die Islamische Republik Iran nicht direkt in den Nahost-Krieg ein? Eine Analyse von Prof. Reinhard Schulze.

Wer die islamischen Akteure im Nahost verstehen will, muss deren religiös-politische Vorstellungen kennen. Die von Iran inspirierte «Achse des Islamischen Widerstands» ist ein religiöses Konstrukt, in welchem Jerusalem die entscheidende heilbringende Rolle spielt. Kürzlich betonte in scharfen Worten der Oberkommandierende der iranischen Revolutionsgarden, Hossein Salāmi, dass die «al-Aqsa-Flut» eine rein palästinensische Angelegenheit sei und dass unabhängig davon die Zeit der Rache für die Tötung des Kommandeurs der iranischen Revolutionsgarden in Syrien, Sayyed Razi Mussavi, noch kommen werde. Mussavi war am 25. Dezember bei einem israelischen Luftangriff auf eine Kommandostelle der Revolutionsgarden, die in einem ehemaligen Gehöft in einem südlichen Vorort von Damaskus eingerichtet war, getötet worden. Salāmi reagierte damit auf den Vorwurf von Hamas-Aktivisten, die Revolutionsgarden würden den militärischen Überfall von Hamas und Islamischem Dschihad auf Südisrael am 7. Oktober zu einer iranischen Propagandashow umdeuten.

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Der Dissens verwundert jene, die bislang von einer Art Nibelungentreue zwischen Iran und Hamas ausgingen und sich nur fragten, unter welchen Bedingungen Iran in den Krieg um Gaza und möglicherweise auch um das Westjordanland eingreifen könnte. Noch vor wenigen Tagen behauptete ein Sprecher der Revolutionsgarden, die «al-Aqsa-Flut» vom 7. Oktober sei auch als Antwort auf die Ermordung des Oberkommandierenden der al-Quds-Brigaden, Qassem Soleimani, in Bagdad im Januar 2020 geplant gewesen. Die Hamas wies dies entschieden zurück. 

Doch Iran besteht darauf, dass das eigentliche Ziel des «Widerstands» Jerusalem sei, was auf schiitische eschatologische Visionen von der Wiederkehr des verborgenen Imams (Mahdi) verweist. Soleimani gilt vor allem posthum als Verkünder und Wegbereiter der erhofften Rückkehr des Imams. Die nicht-schiitische Hamas hingegen ist dem religiösen Ultranationalismus verpflichtet: Sie beansprucht den 7. Oktober als Beginn der «Wiedergeburt» Palästinas als «islamische Nation» mit Jerusalem als Hauptstadt.

Hier zeichnen sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung des Krieges der Gaza-Milizen gegen Israel ab. Die Hamas rahmt den Krieg in ihre religiös-nationalistische Ideologie ein; die iranischen Revolutionsgarden beharren darauf, dass ein Krieg gegen Israel nur dann die militärische Unterstützung Irans fände, wenn es um Jerusalem als religiöse Stätte und damit als Teil einer eschatologischen Auseinandersetzung zwischen Gerechten und Ungerechten ginge.

Qassem Soelimani (re.) und Razi Mussavi
Qassem Soelimani (re.) und Razi Mussavi

So sind die Revolutionsgarden darauf bedacht, ihre parastaatlichen Verbündeten wie die Hamas nicht in eine Position zu bringen, aus der heraus sie Iran zum Eingreifen zwingen könnten, wie es der Hamas-Chef in Gaza, Yahya al-Sinwar, noch immer versucht. Aber die Revolutionsgarden wollen ihre religiöse Eschatologie nicht gefährdet sehen.

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Natürlich beruht nicht das gesamte politische Selbstverständnis der islamischen Revolution im Iran auf einer solchen eschatologischen Weltdeutung. Zwar wird die Eschatologie auch in der iranischen Verfassung insofern angesprochen, als die Ordnung der islamischen Revolution bis zur Wiederkehr des verborgenen Imams noch provisorischen Charakter hat. Doch spielt die Eschatologie bei den Revolutionsgarden eine besondere Rolle: Vor allem ihr transnationaler Flügel, der in den al-Quds-Brigaden organisiert ist, gründet sein Selbstverständnis auf eine schiitische Eschatologie, mit der er zugleich die gesamte iranische Politik nach innen wie nach aussen zu deuten und zu bestimmen sucht. Dies hat in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten innerhalb der iranischen Revolutionsordnung geführt.

Die al-Quds-Brigaden interpretieren sich selbst als militärisches Instrument zur Vorbereitung der Rückkehr des entrückten und im Verborgenen lebenden 12. Imams. Dabei ordnen sie alle politischen Konjunkturen (z. B. Feindschaft zu den USA, Vernichtung Israels, Freundschaft zu Russland) dieser Deutungsordnung unter. Sie verstehen sich nicht nur als Organ der islamischen Revolution, sondern als Wegbereiter des Verborgenen Imams.

Seit der Übernahme des al-Quds-Kommandos 1998 durch Qassem Soleimani haben sich die eschatologischen Erwartungen vor allem der jüngeren Mitglieder radikalisiert und sind zunehmend auf den Gaza-Krieg ausgerichtet. In der schiitischen Theologie ist die Rückkehr des verborgenen Imams ein Heilsgeschehen, das zwar sehnlichst erhofft, aber nicht erzwungen werden kann. Ein Krieg, der nicht in messianischer Absicht geführt wird, könnte, selbst wenn er gerecht wäre, die erhoffte Rückkehr sogar noch weiter hinausschieben. 

Hier liegt der Grund für den Dissens. Solange der Krieg Ausdruck einer palästinensischen Irredentia ist, werden die Revolutionsgarden bestrebt sein, eine Beteiligung möglichst zu verhindern. Natürlich ist nicht auszuschliessen, dass die iranische Führung und das Militär andere Pläne haben und andere Entscheidungen treffen. Schliesslich sind die Revolutionsgarden nur ein Teil des iranischen Militärsystems. Und es könnte durchaus sein, dass die in der Vergangenheit immer wieder zutage getretene interne Konkurrenz zwischen regulärem Militär und Revolutionsgarden dazu führt, dass das Militär die Flucht nach vorne antritt, um die Initiative zurückzugewinnen und die Politik zu einem militärischen Eingreifen zu zwingen.
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