Hürden und Herausforderungen: Demokratie im Iran

Was bestimmt das Schicksal der Demokratie im Iran? Der in den USA lebende politische Analyst Ali Afshari über die aktuellen Hürden einer Demokratie im Iran.

Die Sehnsucht nach Demokratie im Iran hat ihre Wurzeln in der Konstitutionellen Revolution der 1900er Jahre. Die großen politischen Kräfte des Landes, ob nationalistisch oder marxistisch-leninistisch, haben bisher zumindest verbal die Demokratie nicht abgelehnt. Es gab und gibt aber immer noch Widersprüche. Etwa bei den Gruppen, die eine „religiöse“ oder „revolutionäre“ Demokratie angestrebt haben, oder bei jenen, die zwar Demokratie propagieren, aber in ihren Aktivitäten und ihrem Handeln undemokratisch vorgehen. Es gibt darüber hinaus politische Kräfte, die eine Demokratie als wünschenswertes Regierungsmodell ablehnen beziehungsweise die iranische Gesellschaft noch nicht reif genug für eine Demokratie halten.

In den 1990er und 2000er Jahren, insbesondere während der sogenannten Grünen Bewegung, der Protestbewegung gegen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl im Jahr 2009, war der Wunsch nach Demokratie im Bewusstsein der iranischen Öffentlichkeit besonders ausgeprägt. Er wies die Eigenschaften einer parlamentarischen Demokratie auf und lehnte die Verbindung jeglicher Ideologie mit der Politik ab. Politischer und kultureller Pluralismus waren seine weiteren Eigenschaften.

In den 2010er Jahren verlor die Demokratie innerhalb der Gesellschaft und auch in der iranischen Opposition an Bedeutung. Dies entsprach dem internationalen Trend.

In den letzten Jahren haben sich bei einigen oppositionellen Gruppen Formen von säkularen und rechtsextremen Autoritarismus herausgebildet. Mit anderen Worten, die Demokratie im Iran hat auch außerhalb des islamischen Regimes Widersacher gefunden. Sie lehnen die Demokratie entweder grundsätzlich ab oder betrachten sie als aktuell sekundär. Sie sind der Meinung, dass die Demokratie bis auf weiteres zugunsten von Themen wie „Stabilität und territorialer Integrität des Landes und Befreiung aus der wirtschaftlichen Misere“ ignoriert werden könne.

Im Juni 2009 setzte sich die friedliche Grüne Bewegung in Gang, wurde aber schnell vom Staat zerschlagen
Im Juni 2009 setzte sich die friedliche Grüne Bewegung in Gang, wurde aber schnell vom Staat zerschlagen 

Soziale Desintegration

Vor diesem Hintergrund stellen sich existenzielle Fragen: Welchen Platz wird die Demokratie in der Zukunft der politischen Entwicklungen im Iran einnehmen? Wird ihr Schicksal im politischen Diskurs besiegelt?

Die aktuelle Lage im Iran hat sich nicht nur aus politischen Gründen und Hintergründen herauskristallisiert, sondern ist eher präpolitischer Natur. Mit präpolitisch sind die sozialen Umstände und die private Umgebung jedes einzelnen unzufriedenen Bürgers gemeint, aber auch Umstände, die dazu beitragen, dass seine Unzufriedenheit steigt und er sich aktiv an Protestaktionen beteiligt.

In den vergangenen Jahren verdrängten im Iran verschiedene Faktoren den Wunsch nach Demokratie aus dem öffentlichen Bewusstsein – allen voran die soziale Desintegration. Dies bereitete den Boden für die Entstehung möglicher totalitärer Bewegungen und des Populismus. Natürlich bedeutet dies lange nicht, dass die Demokratie im Iran für immer zu den Akten gelegt worden ist, sondern, dass der Weg dorthin noch steiniger geworden ist.

An erster Stelle muss die Verschärfung der wirtschaftlichen Misere in Betracht gezogen werden, die immer größere Teile der Bevölkerung unter die Armutsgrenze abrutschen und die Mittelschicht schrumpfen lässt. Die Wirtschaftskrise verschärft sich durch die Effizienzkrise und die systematische Korruption in der Islamischen Republik sowie die fehlende Kompetenz der politischen Entscheidungsträger und die Machtausweitung des extremistischen Lagers rund um das religiöse Oberhaupt Ali Khamenei. Hinzu kommen Arbeitslosigkeit, die kritische Lage der Pensionskassen (denen enorme Beiträge fehlen – d. Red.), Kapitalflucht ins Ausland, Probleme der Landwirtschaft wie Dürre und Wasserknappheit, aber auch die harten Sanktionen, die eine Folge der militanten Außenpolitik der Islamischen Republik und von deren Versuchen zu mehr Einflussnahme in der Region ist.

Offiziellen Angaben zufolge ist die Zahl der in Armut lebenden Menschen im Iran von 12,5 Millionen im Jahr 2011 auf 23 Millionen (von etwa 85 Millionen Einwohner*innen – d. Red.) im Jahr 2020 angestiegen. Somit müssen Demokratie und Freiheit auf der Prioritätenliste den primären Bedürfnissen wie etwa Nahrung und Gesundheit weichen.

Reformen nicht möglich

Auf der anderen Seite steht ein Regime, das sich nicht nur jeglichen Reformen hartnäckig widersetzt, sondern den wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Forderungen eines Großteils der Bevölkerung nicht gerecht werden kann. Zeitgleich nimmt der Einfluss mafiöser Strukturen zu, während Zivilgesellschaft und Verbände systematisch unterdrückt werden. Infolgedessen haben Aggression und Gewalt innerhalb der iranischen Gesellschaft zugenommen. Im vergangenen Jahr wurden landesweit etwa 600.000 gewaltsame Auseinandersetzungen registriert – davon 400.000 von Männern.

Ein Mann überfällt in Teheran eine Frau – solche Videos aus dem Iran gibt es in letzter Zeit zuhauf in den sozialen Netzwerken:
https://twitter.com/daruoshgalali/status/1538431842961047553

Während die Kriminalität, insbesondere bewaffnete Raubüberfälle und Erpressung, deutlich zunehmen, werden die Möglichkeiten kollektiver Freude sowie der Wunsch nach sozialer Solidarität spürbar geringer. Die traditionellen Mechanismen zur Konfliktlösung, die meist auf der Vermittlung von Verwandtschaft und Familie basieren, verblassen, und die Gesellschaft ist kulturell stark polarisiert. Das alles hinterlässt tiefe Gräben und sorgt für mehr Unruhe, Ungeduld und Intoleranz. Auch die soziale Kommunikation ist stark zurückgegangen.

Die negativen Auswirkungen von Sozialen Netzwerken wie etwa die Förderung des Populismus oder die Verbreitung von Falschinformationen dürfen ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.

Der erfolgreiche Übergang zu einer Demokratie oder der Sieg einer Revolution erfordert unter anderem eine aufopferungsfreudige, freundliche, emphatische Gesellschaft mit tiefen sozialen Bindungen. Leider finden Toleranz und Hilfsbereitschaft in der aktuellen Situation im Iran keinen besonders großen Zuspruch. Natürlich kann das Phänomen vorübergehend sein und der emotionale Charakter der iranischen Gesellschaft könnte unter bestimmten Bedingungen anders aussehen.

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Die iranische Gesellschaft befindet sich momentan allem Anschein nach in einem Zustand der Desorganisation und des Durcheinanders. Umso geringer sind daher dort in der jetzigen Situation die Chancen für eine potenziell stabile Demokratie. Im Moment besteht die Notwendigkeit, Werte und Verhältnisse zu fördern, die letzten Endes soziale Bindungen und nationale Solidarität unterstützen. Andernfalls steigen die Risiken eines Übergangs in einen instabilen Zustand nach dem Zusammenbruch der Islamischen Republik.

Daher ist von der demokratischen Opposition sowie den Intellektuellen und Expert*innen ein besonderes Engagement gefragt. Falscher Optimismus in Bezug auf die geistige Bereitschaft der Gesellschaft und die Vernachlässigung der bestehenden Herausforderungen könnten zu noch größeren Problemen führen. Die Veränderung der präpolitischen Umstände der iranischen Gesellschaft kann die Chance eines erfolgreichen Übergangs zur Demokratie stärken. Zu beachten ist außerdem, dass sich die iranische Gesellschaft im Moment in einer Vorstufe der Übergangsphase befindet und die Islamische Republik trotz enorm vieler Probleme immer noch die Zügel in der Hand hält.♦

Ali Afshari

Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von Iman Aslani.

Dieser Artikel wurde zuerst am 16. Juni auf Persisch in der DW veröffentlicht. 

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