Berlinale, im Twiggy-Look

Die 71. Berlinale hat nicht nur ordentlich abgespeckt, sondern findet in diesem Jahr auch in zwei Portionen statt. Wie immer waren auch iranische Filme vertreten, gingen bei den diesjährigen Preisverleihungen aber leer aus. Die zweite Sequenz des Filmfestivals gibt es vom 9. bis 20. Juni in Berlin.

Von Fahimeh Farsaie

Die zweite Berlinale des Leitungsduos Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ist geschafft. Der Goldene Bär des abgespeckten Festivals geht in diesem Jahr an den Film „Bad Luck Banging or Loony Porn“ des rumänischen Regisseurs Radu Jude. In seinem Film gelangt das Amateur-Pornovideo einer jungen Lehrerin unfreiwillig ins Internet. Sie muss sich einem Tribunal aus Eltern und Kollegium stellen, sonst verliert sie ihre Stelle. Auf dem Weg dahin zeichnet Radu Jude das Bild einer zutiefst bigotten und heuchlerischen Gesellschaft, die dem Anschein nach religiös geprägte Werte hochhält, denen sie selbst aber nicht folgt.

Das Vergeltungsgesetz

Religiöse Gesetze sind auch das Thema des Filmes „Die Ode der weißen Kuh“, ein gemeinsames Werk von Behtash Sanaiha und Maryam Moghadam, die auch das Drehbuch zusammen geschrieben haben. Moghadam spielt zudem die Hauptfigur der Geschichte, Mina. Es geht um das heikle Thema Vergeltung, die im islamischen Recht (Scharia) als „Ghessas“ bezeichnet wird. Demnach hat die Familie eines Opfers das Recht auf Vergeltung, sie kann aber auch eine Begnadigung des Täters aussprechen. „Die Ode der weißen Kuh“ durfte im Wettbewerb mit 14 anderen Filmen konkurrieren, ist aber leer ausgegangen.

Nachdem der Film auf dem Teheraner Fajr-Filmfestival 2020 aufgeführt worden war, hatten ihn den konservativen Kreisen nahestehende Medien heftig kritisiert: „Die Zielscheibe der Angriffe der Filmemacher ist in diesem Film in erster Linie das Vergeltungsgesetz und dessen Anwendung bei Strafverfahren in Gerichten dieses Landes“, schrieb der Kritiker der Zeitung Tasnim. Behtash Sanaiha konterte dies mit dem Hinweis, dass die beiden Filmemacher*innen nur auf eine rechtliche Lücke aufmerksam machen und das Gesetz der Vergeltung nicht in Frage stellen wollten.

Das „Blutgeld“

Die Ode der weißen Kuh“ erzählt die Geschichte der in einer Milch-Fabrik arbeitenden Mina, deren Ehemann Babak irrtümlich hingerichtet wird. Einer der zuständigen Richter rechtfertigt das falsche Todesurteil so: „Es muss Gottes Wille gewesen sein, dass wir Ihren Ehemann hingerichtet haben“, und tröstet sie mit den Wörtern: „Wir zahlen für ihn aber Blutgeld.“

Trailer des Films „Die Ode der weißen Kuh“:

Das Blutgeld (Diye) ist nach dem islamischen Recht die „Ausgleichszahlung für die Schädigung von Leib oder Leben einer Person von der Familie oder Sippe des Schädigenden an die Opferfamilie oder -sippe statt Vergeltung.“

Mina bleibt nichts anders übrig, als die „Ausgleichszahlung“ zu akzeptieren, obwohl sie weiß, dass der Erhalt kein leichtes Unterfangen ist und eine Ewigkeit dauern kann. So fängt ihre Odyssee an. Um die Zeit zu überbrücken, beantragt sie eine Art Sozialhilfe bei den Behörden, obgleich es nicht sicher ist, ob sie dazu berechtigt ist oder nicht.

Ein Retter?

Auf diesem langen und mit vielen Hindernissen verbundenen Weg wird Mina nur von einem angeblichen Freund Babaks namens Reza unterstützt, der ihm viel Geld schuldet und es ihr zurückgeben möchte. Die Summe ist beachtlich und hilft ihr einigermaßen, finanziell zu überleben und für sich und ihre gehörlose kleine Tochter Bita zu sorgen. Nebenbei kämpft Mina mit allen juristischen Mitteln, um ihre Rechte und die Würde ihres unschuldigen Mannes zurück zu bekommen. Babaks gierige Familie und sein Macho-Bruder greifen der Witwe nicht unter die Arme. Im Gegenteil: Der hinterhältige Bruder versucht sogar, ihre ausweglose Situation auszunutzen und sie unter verschiedenen Vorwänden zu belästigen.

Unendliche Lücken

Behtash Sanaiha und Maryam Moghadam bedienen sich des Vergeltungsgesetzes als Hauptthema ihres Werkes, um auf die gravierenden rechtlichen und sozialen Lücken aufmerksam zu machen, die in der Islamischen Republik allesamt zu Ungunsten der Frauen konzipiert und ausgelegt werden.

Die Ode der weißen Kuh“ ist ein bewegendes Drama à la Asghar Farhadi mit unerwarteten Wendungen und einer souveränen Bildsprache, die auch andere Medien nutzt, um die Konturen der Figuren mit ihrer für Iraner*innen vertrauten Symbolik zu schärfen: Die Filme, die Mina und Bita trotz aller Probleme und Widrigkeiten abends gemeinsam anschauen, spiegeln vor allem die innige Verbundenheit zwischen den beiden wider. Da kommen Szenen vor wie vom „Little Prince“ mit Shirley Temple oder vom Film „Bita“ – mit der im Exil lebenden beliebtesten Sängerin Irans Googoosh – und natürlich unterhaltsame türkische Serien, die Iraner*innen gerne sehen.

Kinder der Revolution
Fortsetzung auf Seite 2