Iranische Gesellschaft zwischen Angst und Hoffnung

Trotz der Versprechen der Regierung Hassan Rouhanis, die soziale Situation im Iran zu verbessern, herrscht Unsicherheit in der Bevölkerung. Experten meinen, dass sich bisher keine spürbaren gesellschaftlichen Veränderungen ergeben haben. Der in Teheran lebende Soziologe Said Moidfar warnt die Regierung vor dem Verlust ihrer Basis.
Ob das Vertrauen der iranischen Bevölkerung in die Regierung und ihre politischen Entscheidungen, ob das gegenseitige Vertrauen der Menschen untereinander oder ob gar die Investitionsfreude der IranerInnen gewachsen sei, könne man noch nicht feststellen, sagen Experten im In- und Ausland. Einer von ihnen ist der Soziologe und Universitätsdozent Said Moidfar. Im Gespräch mit der reformorientierten iranischen Zeitung Etemad unterstellt er der Regierung, sich mehr um Außenpolitik zu kümmern und ihre Versprechen in Bezug auf persönliche und soziale Freiheiten der IranerInnen zu vernachlässigen. TFI dokumentiert Auszüge aus dem Interview.
Etemad: Herr Moidfar, wie schätzen Sie die soziale Lage im Iran ein?

Said Moidfar: Die neue Regierung muss die WählerInnen davon überzeugen, dass sie das Zentrum der politischen Macht sind
Said Moidfar: Die neue Regierung muss die WählerInnen davon überzeugen, dass sie das Zentrum der politischen Macht sind

Said Moidfar: Die iranische Gesellschaft befindet sich zwischen Angst und Hoffnung. Daher ist sie passiv. Noch kann man keine innenpolitischen Veränderungen feststellen. Die Regierung ist damit beschäftigt, das Vertrauen im Ausland wiederzugewinnen. Um das Vertrauen im Inland kümmert sie sich aber zu wenig. Das beeinträchtigt das soziale Klima.
Was wäre die richtige Haltung der Regierung gegenüber den Gruppen, die sich gegen Veränderungen stellen und mit politischem Druck drohen?
Die Regierung muss sich darüber im Klaren sein, dass sie nicht nur die Regierung der Mehrheit ist, sondern auch derjenigen, die sie nicht gewählt haben. Wenn auch in diesem Teil der Gesellschaft Hoffnung und Vertrauen geweckt werden, wird er zu ihrem gesellschaftlichen Rückgrat. Dagegen muss man die Regierung davor warnen, sich von einer konservativen Minderheit leiten zu lassen und innenpolitische Veränderungen zu vergessen. Sie muss genauso wie auf internationaler Ebene auch etwas für das ihr entgegen gebrachte Vertrauen der Bevölkerung tun. Die Zeit ist dort wie hier knapp. Das kann zum Verlust der gesellschaftlichen Basis und damit zum Misserfolg der neuen Regierung im Inland führen.
Scheinbar bemüht sich die Regierung doch um das Vertrauen der Bevölkerung. Es sind andere Störfaktoren, die sich zwischen die Regierung und ihre potenzielle Basis stellen.
Genau diese Störfaktoren verhindern den Rückgewinn des verlorenen Vertrauens. Es ist allgemein bekannt, dass junge  Menschen, die intellektuelle Schicht, Studenten die neue Regierung gewählt und unterstützt haben. Just diese WählerInnen erwarten eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Nun ist die Regierung an der Reihe, das Vertrauen der WählerInnen zu stärken, um sie zum festen gesellschaftlichen Rückgrat aufzubauen. Am Beispiel der Universität ist das gut zu veranschaulichen. Dort, wo der intellektuelle junge Geist der Gesellschaft zuhause ist, herrscht Stillstand. Wenn hier ein freier Informationsaustausch erlaubt wäre, würde dies das Vertrauen dieser Schicht in die Regierung verstärken.
In einigen Fällen haben Abgeordnete des Parlaments versucht, politische Veränderungen zu verhindern. Bedeutet das Einschränkung für das Kabinett?
"Nun ist die Regierung an der Reihe, das Vertrauen der WählerInnen zu stärken, um sie zum festen gesellschaftlichen Rückgrat aufzubauen"
„Nun ist die Regierung an der Reihe, das Vertrauen der WählerInnen zu stärken, um sie zum festen gesellschaftlichen Rückgrat aufzubauen“

Ja. Der politische Druck seitens der konservativen Parlamentarier ist deutlich zu spüren. Es stellt sich aber die Frage, ob politischer Druck seitens der WählerInnen nicht gefährlicher wäre. Wenn die Regierung keine maßgeblichen Veränderungen vornimmt, verliert sie den Rückhalt ihrer Macht in der Gesellschaft. Ich bin der Meinung, dass sie zu sehr mit außenpolitischen Problemen beschäftigt ist. Sie lässt außer Acht, dass zur Herstellung sozialen Vertrauens Veränderungen wie etwa die Freilassung politischer Gefangener sehr wichtig sind. Auch Pressefreiheit, freier Informationsaustausch und freie Meinungsäußerung sind Grundbedürfnisse einer Gesellschaft. Die Schließung der Zeitung Bahar dagegen war ein Rückschritt und zeigte der Bevölkerung: Nichts hat sich etwa in Sachen Pressefreiheit geändert. Die neue Regierung muss die WählerInnen davon überzeugen, dass sie das Zentrum der politischen Macht sind.
Wie war das soziale Vertrauen der Bevölkerung während der Wahlen?
Meiner Meinung nach haben die IranerInnen die gefährliche Situation des Iran sehr bewusst  wahrgenommen. In ihrer Besorgnis über außen- und innenpolitische Drohungen haben sie eine Wahlentscheidung getroffen, die eine tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Krise vermeiden sollte. Sie haben pragmatisch gewählt.
 
Bedeutet das nicht, dass die Regierung die Menschen für sich gewonnen hat?
Meines Erachtens nein. Die Bevölkerung hat versucht, eine ernsthafte Gefahr abzuwenden. Der wichtige Punkt des Wählervertrauens beginnt nach der Wahl. Ob die Wahl richtig war, muss die Regierung mit Taten beweisen, zum Beispiel durch politische und soziale Freiheiten, Bürgerbeteiligung und Förderung nicht staatlicher Organisationen. Alle diese Organe könnten dann der Regierung zur Seite stehen und das Land aus der Krise heben.
Aus dem Persischen: Said Shabahang