Leben am Abgrund

Narges Shayan ist 52 Jahre alt, geschieden, und wie im Iran üblich nach 30 Dienstjahren bereits pensioniert. Sie lebt mit ihrer 80-jährigen Mutter in einer Eigentumswohnung im Norden Teherans. Ihr verheirateter Sohn lebt ebenfalls in der iranischen Hauptstadt, ihre Tochter lebt in New York und ist inzwischen US-Bürgerin. Shayan hat eine Greencard und reist mindestens einmal im Jahr in die USA zu ihrer Tochter und ihrer ebenfalls dort lebenden Schwester. Zu Trumps Drohungen sagt sie: „Wir haben schon so viel Leid erfahren, dass wir dickhäutig geworden sind. Die Preise steigen ununterbrochen, Renten und Gehälter nicht. Ein kleines Päckchen Schafkäse mit 300 oder 400 Gramm kostete letzte Woche 40.000 Tuman (umgerechnet 2,70 Euro), diese Woche sind es schon 60.000 Tuman. Und neuerdings bekommt man Käse und Joghurt gar nicht mehr in solchen kleineren Mengen, weil sich auch die Verpackungspreise vervielfacht haben.“ Viele Lebensmittelläden und andere Geschäfte würden geschlossen, weil die Kaufkraft der Bevölkerung kontinuierlich sinke: „Jetzt sind fast alle in der gleichen Situation. Alle befinden sich unter der Armutsgrenze. Es gibt nur wenige, die reich geworden sind.“ Doch es seien kaum „ehrenhafte“ Bürger*innen unter diesen.
„Mein Unternehmen ist stark geschrumpft“
Der 33-jährige Barbad Hashemi ist Unternehmer in Teheran. Er führt eine Import-Export-Firma und ist mit einer gut situierten Akademikerin verheiratet. Beide arbeiten und haben vor kurzem ihr erstes Kind bekommen. Die Familie von Hashemis Frau lebt in Italien, wo sie auch zur Schule ging und studierte. Die beiden haben sich während eines Besuchs seiner Frau in Teheran kennengelernt, sie kehrte dann in den Iran zurück. Er hat das Startkapital für seine Firma zum Teil aus Ersparnissen und zum Teil von der Familie seiner Frau bekommen. „Wir haben Waren aus Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern eingeführt. Nun ist es fast nicht mehr möglich, die Zahlungen zu regeln, weil die Banken wegen der US-Sanktionen keinen Geldtransfer mehr in den und aus dem Iran zulassen. Mein Unternehmen ist stark geschrumpft, ich habe heute statt früher sieben nur noch einen Angestellten. Er ist zugleich Sekretär und Fahrer.“
Als Hashemi von Trumps Drohung gehört habe, habe er eine große Menge Milchpulver für seine sechs Monate alte Tochter gekauft, „und natürlich Windeln, die ohnehin seit Monaten rar sind.“

Wegen des Wertverlustes der iranischen Währung können viele Medikamente nicht mehr eingeführt werden
Wegen des Wertverlustes der iranischen Währung und der US-Sanktionen gegen iranische Banken können viele Medikamente nicht mehr eingeführt werden

 
Sittenwächter aktiv wie immer
Die Soziologin Mina Rashidbeygi ist nicht verheiratet. Die 32-Jährige hat zusammen mit ihrer Schwester ein schlichtes Restaurant in der Stadt Rasht in der nördlichen Provinz Gilan aufgebaut, nachdem sie sich jahrelang mit staatlich geförderten Forschungsprojekten mehr schlecht als recht durchgeschlagen hat. „Wir haben Pech gehabt!“, erklärt sie. Die Eröffnung ihres Restaurants geschah zeitgleich mit dem Austritt der USA aus dem Atomabkommen. Sie seien unerwartet mit den folgenden Sanktionen und der Inflation konfrontiert worden. Firmen, die mit dem Iran Geschäfte machten, wurden bestraft. „Wir haben nur Regionalprodukte für unser Restaurant gekauft. Doch auch deren Preise sind stark gestiegen, genauso rasant wie die Wechselkurse von Euro und Dollar. Sie steigen stündlich. Reis und Zwiebeln sind am Vormittag preiswerter als am Nachmittag“, erklärt Rashidbeygi.
Und die Menschen müssten plötzlich mehr Miete zahlen, mehr für Benzin und Heizkosten, für Strom, für Bus und Taxi und Medikamente – sie müssten ihre Einkommen genau einteilen: „Alles, was nicht direkt dem Lebenserhalt dient, muss aus der Wunschliste gestrichen werden“, erklärt die Restaurantchefin. Deshalb kämen nur im ersten Drittel des Monats noch genug Gäste, um kostendeckend zu arbeiten. „Wir müssen mit immer weniger Gästen und weniger Einkommen zurechtkommen. Wenn der Kühlschrank, der Geschirrspüler oder die Kaffeemaschine kaputt gehen, können wir sie kaum ersetzen oder reparieren lassen.“ Glücklicherweise habe ihr Vater ein eigenes Haus, in dem sie wohnen könnten, ohne Miete zu zahlen. Aber auch er spüre als pensionierter leitender Beamter die Not: „Früher konnte er am Monatsanfang den Kühlschrank gut füllen. Heute kauft er nur für den täglichen Bedarf ein.“
Ein Beschäftigter in ihrem Restaurant verdiene monatlich 500.000 bis 600.000 Tuman, umgerechnet 33 bis 40 Euro, sagt Rashidbeygi: „Er muss ein Fünftel seines Gehaltes bezahlen, wenn er ein Kilo Fleisch kaufen will!“ Geringverdiener*innen könnten ihren Kindern heute außer Milch nur einmal in der Woche etwas Warmes vorsetzen: „Und ich meine kein richtiges Essen, sondern etwas Reis oder Kartoffeln mit Bohnen oder Joghurt.“ Seit den jüngsten Kriegsdrohungen sei die Lage noch schlimmer geworden: „Die Preise sind enorm gestiegen“, sagt Rashidbeygi.
Aber trotz der großen wirtschaftlichen Not, erklärt die junge Restaurantbesitzerin, gebe es noch andere Sorgen: „Immer noch kommen, wenn hier jemand Gitarre spielt oder aus der Musikanlage westliche Musik ertönt, die Sittenwächter zu uns. Und kontrollieren dann auch, ob die Frauen und Mädchen ihre Kopftücher vorschriftsmäßig tragen.“♦
  NASRIN BASSIRI
* Die Namen aller Gesprächspartner*innen sind vom IranJournal zu deren Schutz verändert worden.
© Iran Journal

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