Friedensnobelpreisträgerin bittet die junge Generation um Vergebung

Die iranische Juristin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi hat die junge Generation im Iran in einem offenen Brief um Verzeihung für die „unheilvolle Revolution“ gebeten. Diese habe die Zukunft dieser Generation zerstört. Iran Journal veröffentlicht die deutsche Übersetzung des vielbeachteten Briefes.

 Dieser Brief, geschrieben 41 Jahre nach der Revolution, die meine Generation und ich angestiftet haben, richtet sich an meine Töchter und ihre Altersgenoss*innen. Sie bitte ich hiermit um Verzeihung für unseren Fehler, ihre Welt zerstört zu haben. Das war nicht unsere Absicht.

Wir wollten unsere Welt und eure verbessern, sind aber den falschen Weg gegangen: nämlich den, ohne genaue Kenntnisse einem Menschen zu folgen. Ohne von ihm ein Buch gelesen oder ihn bei einer öffentlichen Diskussion erlebt zu haben, folgten wir ihm und seinen Parolen wie „Nieder mit…“ und „Es lebe…“.

Hätte es in jener Zeit Meinungsfreiheit gegeben und die Möglichkeit, die Werke von Ruhollah Khomeini zu lesen oder seine Ansichten bei Podiumsdiskussionen kennenzulernen, dann wäre die Parole „Nieder mit dem Schah“ vielleicht nicht zustande gekommen. Wäre die Bildung von Parteien erlaubt gewesen, hätten politische Organisationen Aufklärung betreiben können, dann wären wir nicht einem politischen Führer gefolgt, den wir nicht richtig kannten.

Aus heutiger Sicht finde ich, dass die Revolution zur falschen Zeit stattfand. Wir hätten vor 41 Jahren nach Reformen streben müssen, denn der Schah war krank und hatte 1978 den unumstrittenen Patrioten Shahpur Bakhtiar zum Ministerpräsidenten ernannt. Wir hätten ihn statt Khomeini unterstützen müssen.

Unsere heutigen Probleme rühren daher, dass wir glaubten, ein Geistlicher im Klerikergewand sei vertrauenswürdig, weil er nicht lügen dürfe. Er werde sich nicht in unsere irdischen und politischen Angelegenheiten einmischen – was er selber auch behauptet hat.

Doch bald wurde ihm alles untergeordnet. Damals hörten wir seine Mitteilungen im Radio BBC Persian. Als der Schah und sein Umfeld dem Sender Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes und die Lenkung der Revolution vorwarfen, hieß es von der BBC, sie würden unparteiisch berichten – die offiziellen Nachrichten aus dem Iran und die Nachrichten der Gegner des Schahs.

Tausende von uns hörten Khomeinis Mitteilungen im BBC und folgten seinen Anweisungen zu den Demonstrationen. Ich möchte mit diesen Erinnerungen nicht die persischsprachigen Radiosender anprangern. Die Schuld dafür, für ein politisches System zu votieren, von dessen Inhalt wir keine Ahnung hatten, liegt einzig und allein bei uns. Statt nur den Reden einer Person zuzuhören, hätten wir uns mit dieser Person auseinandersetzen müssen. Aber es geschah, was nicht geschehen durfte, und der schöne Iran trauert heute um seine Jugend, die ihr Leben für die Freiheit gelassen hat – das Resultat der Fehler meiner Generation.

Der Iran befindet sich heute in einer Situation, in der die Jugend, die mit Liebe und Mühe studiert, keine Zukunft, keine Arbeit, keinen Wohlstand, keine Freiheit und keine Sicherheit erwarten kann. Tausende junge Iraner*innen verlassen ihr Zuhause und ihre Familien, um in Europa und Amerika ihre Träume zu realisieren.

Der Iran ist in den Händen von 100 korrupten Familienclans, und wer außerhalb dieses Kreises steht, hat keine Hoffnung auf Fortschritt und ein gesundes und würdiges Leben.

Khomeini versprach in Paris Freiheit für alle. Aber ein paar Wochen nach seiner Rückkehr in den Iran führte er die Kopftuchpflicht zuerst für die Frauen ein, die in Ämtern und im öffentlichem Dienst arbeiteten. An jenem Tag begriff ich, wie gelassen auch ein Kleriker lügen kann. Am selben Tag trennte sich mein Weg von dem der Revolution und ihrem religiösen Führer. Als Frau musste ich meine Stellung als Richterin aufgeben. Das war der nächste Preis für die Revolution, den ich zahlen musste. Da lernte ich, dass diese Revolution den Frauen niemals Freiheit und Gleichberechtigung bringen würde.

Aus Scham über die Einsicht in die eigenen Fehler übernahm ich als Rechtsanwältin die Verteidigung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Das kostete mich einiges. Trotz aller politischen Aktivitäten für die Wiedergutmachung der Fehler der Vergangenheit fühle ich mich verantwortlich. Ich stehe bei der jungen Generation in der Kreide. Die Zerstörung ihrer Heimat  ist die Folge meiner Fehler und der meiner Generation.

Ich wurde erst nach der unheilvollen Revolution Mutter. Mir war klar, dass meine Töchter mir irgendwann die Frage stellen würden, warum wir eine Revolution mitgetragen haben, die ihre Zukunft zerstörte.

Die junge Generation hätte es verdient, ein blühendes Land übergeben zu bekommen, doch es kam nicht so. Ich fühle mich dafür mitverantwortlich. Bitte verzeiht uns. Wir hätten genauer hinschauen müssen, wir hätten die richtige Wahl treffen müssen.♦

SHIRIN EBADI

Shirin Ebadi studierte Jura an der Universität Teheran, war die erste vorsitzende Richterin im Iran, Rechtsanwältin, Menschenrechtsaktivistin, Friedensnobelpreisträgerin 2003. Sie lebt seit 2009 in Großbritannien.

Aus dem Persischen übertragen und überarbeitet von Omid Shadiwar

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