Wie man aus einer Anklägerin eine Angeklagte macht

Die nächste Sitzung dauerte mehrere Stunden und begann mit Ansprachen der drei anwesenden Beamten. Solche Reden beinhalten viele Standardsätze, die ich inzwischen auswendig kenne. Es geht immer um irgendwelche „Feinde und Verräter“, die gegen „den heiligen Staat“ und „das gläubige Volk“ „intrigieren“ und mich und mein Anliegen „für ihre Zwecke missbrauchen“. Es geht um den Ruf der Islamischen Republik und um irgendeine „Ehre“, die verteidigt werden müsse, um die „rote Linie“, die ich überschritten hätte, die „brüderlichen Ratschläge“, die ich ignoriert, und „die Geduld des Systems“, die ich strapaziert hätte. Wie üblich bei solchen Gesprächen wurden meine Einwände abgewürgt.
Später wurden als Beweise für meine Schuld unter anderem zwei meiner Kunstwerke angeführt: Die Installation „Trauerfeier“ aus dem Jahr 2003 und der „Countdown“ von 2008. Bei beiden Installationen handelt es sich um eine Anzahl von Kunstobjekten, deren Formen aus Bürostühlen oder Sitzsäcken abgeleitet sind. Auf jedes dieser Kunstobjekte sind Ausschnitte von religiösen Bannern appliziert worden. Solche Banner, eine Mischung aus Kalligrafie, Mustern und grellen Farben, werden im Iran als Massenware hergestellt und bei der Trauerzeremonie für den dritten schiitischen Imam, Imam Hussein, als Ausstattung eingesetzt. Sie werden als Fahnen aufgehängt, Innen- und Außenwände diverser Gebäude werden mit ihnen bedeckt, auch Rednerpulte, Bühnen, Treppengeländer, LKW, Busse, PKW und anderes. Sie werden zu Applikationen, die sich über das Stadtbild ziehen.
Die „Sachkundigen“ hielten einer nach dem anderen hitzige Reden gegen meine Werke und stellten manche absurde Behauptung auf, etwa, dass ich die Stühle der Konterrevolution als Ausstattung für ihre konspirativen Treffen zu Verfügung stellen würde. Als der Ermittlungsrichter an die Reihe kam, schaute er grimmig auf die Abbildungen der Kunstwerke und erklärte, die Schuldigkeit der Objekte spräche für sich selbst: „Die Applikation solcher heiligen Tücher auf diverse Stühle ist eine unverzeihliche Provokation und eine deutliche Beleidigung des Sakrosankten.“ Ich missbräuchte die Kunst, um Propaganda gegen das System zu betreiben, fügte er hinzu. Alle meine Argumente prallten an seinem Dogma ab. Seine tiefe Unkenntnis von Kunst machte meine hartnäckigen Versuche, zu einem Dialog zu kommen, zunichte.

Kunstwerke, die das iranische Regime als "Propaganda gegen das System" einstuft
Kunstwerke, die das iranische Regime als „Propaganda gegen das System“ einstuft

 
Vorläufig frei mittels einer Bürgschaft
Letztendlich stimmte er dem Antrag der „Sachkundigen“ zu, die Ermittlungen gegen mich weiterzuführen. Dann kündigte er mir in einer „brüderlichen“ Geste an, dass ich bis auf weiteres mittels einer Bürgschaft frei bleiben könne und auch ausreisen dürfe. Er werde mich vorladen, sobald ihm neue Ermittlungsergebnisse vorlägen. Bei der folgenden Sitzung, während der der Büroleiter die Formalie der Bürgschaft abwickelte, stellte mir der Richter einige Fragen über den politischen Werdegang meines Vaters. Die Fragen seien nicht relevant für die Akte, er stelle sie nur aus purer Neugierde, merkte er an. Seine Geschichtskenntnisse schienen mir nicht größer als seine Kunstkenntnisse zu sein. Während ich widerwillig erzählte, schaute er auf seinen Monitor und las murmelnd einige Sätze, die mir bekannt vorkamen. „Sie lernen Geschichte nicht etwa über Wikipedia, oder?“, fragte ich ihn. Er ignorierte meine Frage. Ich nannte ihm eine Webseite, die ein umfassendes Archiv von politischen Dokumenten meiner Eltern beinhaltet. Das Archiv hatte ich nach jahrelanger Vorbereitung vergangenen Sommer ins Netz gestellt. Kurze Zeit später stutzte der Richter: „Der Zugang zu dieser Seite ist aber gesperrt“, sagte er. Er kehrte zu Wikipedia zurück und ich musste lachen über die ungewollte Komik der Situation.
Verwüstung des Elternhauses
Eine weitere Klage, der ich während meiner Tage in Teheran nachgegangen bin, betrifft die wiederholten Einbrüche in meinem Elternhaus. Das Haus, welches immer mehr dem kollektiven Gedächtnis der iranischen Gesellschaft angehört, wurde im April und Dezember 2015 zur Zielscheibe arglistiger Einbrüche. Zahlreiche Erinnerungsstücke wurden dem Ort entrissen. Die Spuren der Einbrecher bezeugten eine massive Durchsuchung und Verwüstung des Ortes. Der Einbrecher, angeblich ein Alleintäter, wurde im Sommer von der Kriminalpolizei ausfindig gemacht. Er hatte angegeben, die entwendeten Gegenstände auf einem Hehlermarkt verhökert und, viel wichtiger, über einen Mittelsmann versucht zu haben, die Besitzurkunde des Hauses zu fälschen, um es zu verkaufen.
Haben die "Diebe" im Haus des Forouhars nach etwas Bestimmtem gesucht? Foto: Parastou Forouhar
Haben die „Diebe“ im Haus des Forouhars nach etwas Bestimmtem gesucht? Foto: Parastou Forouhar

Am 29. November tagte das Gericht in dieser Angelegenheit, zu der ich als Klägerin eingeladen war. Der „Alleintäter“ dementierte seine vorliegenden Geständnisse und behauptete, dass er zu einer Falschaussage gezwungen worden sei, zum Teil durch körperliche Züchtigung. Er stellte die Geschehnisse so dar: Am Tag des Einbruchs sei er zufällig auf seinem Motorrad an meinem Elternhaus vorbeigefahren. Die Haustür habe offen gestanden. Aus Neugierde habe er das Haus betreten und die Räume in einem Zustand der Verwüstung vorgefunden. Er habe die Besitzurkunde, die auf dem Boden lag, zusammen mit zwei kleinen Gegenständen mitgenommen und den „gespenstischen Ort“ schnell verlassen. Seine Beute habe er bei der Verhaftung den Beamten übergeben. Immer wieder bat er um Verzeihung und beanspruchte einen Freispruch.
Der Richter kam selten zu Wort und stellte dem Angeklagten auch keine Fragen, die der Wahrheitsfindung hätten dienen können. Die Fragen, die ich ihm stellte, beantwortete der Mann mit weinerlicher Stimme und verwickelte sich dabei in zahlreiche Widersprüche. Nach und nach wurde mir klar, dass er die Wahrheit nicht sagen, seine Mittäter nicht benennen und die Umstände seiner „Falschaussage“ nicht preisgeben würde. Er versuchte nur, Mitleid zu erregen, um ein mildes Urteil zu erlangen. Immer wieder erzählte er von seinem harten Leben, seinem Kind, seiner Frau und seinen alten Eltern, die ohne ihn jegliche Lebensgrundlage verlieren würden. Der Prozess war ein Schauplatz der Verlogenheit und der Korruption und entzog mir jeglichen Orientierungssinn in dieser Angelegenheit.
Ich war wieder in Deutschland, als der Richter sein Urteil verkündete, bei dem die Aussage des Angeklagten völlig außer Acht gelassen worden war. Meine Anwältin legte wegen mangelhafter Ermittlungen Widerspruch ein. Nun bleibt abzuwarten, welches endgültige Urteil der Richter fällen wird.
Eine andere Gedenkveranstaltung
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