Hinrichtung auf Raten

Kranke Dissidenten in den Händen eines allmächtigen Geheimdienstes:  Auch wenn nicht vieles aus den Gefängnissen nach außen dringt, einige offene Briefe und private Erzählungen Freigelassener geben eine Vorstellung davon, was sich hinter den Mauern der iranischen Gefängnisse abspielt .
„Kranken Dissidenten die medizinische Hilfe zu verweigern, um sie zu demütigen, gehört zur üblichen Praxis in iranischen Gefängnissen“, sagt der Jurist Mohammad Mostafae. Der Rechtsanwalt kennt sich im Wirrwarr des iranischen Justizwesens bestens aus. Er weiß von Willkür der mächtigen Geheimdienstler. Es gebe zwar Gesetze, ja sogar Institutionen für medizinische Hilfe für Gefangene,  sagt der Anwalt: „Doch leider nur auf dem Papier.“ Ob ein politischer Gefangene medizinische Hilfe bekomme, ob er Besuche oder Freigang erhält, ob er in eine Gemeinschaftszelle oder Einzelhaft komme und wie seine Essensration aussieht – über all das entscheide nicht die Justizbehörde oder die zivile Gefängnisverwaltung, sondern der für den jeweiligen Fall zuständige Geheimdienstbeamte, sagt  auch der Journalist Morteza Kazemian. Kazemian, Gründungsmitglied der Vereinigung zum Schutz der Pressefreiheit im Iran, verbrachte selbst mehrere Jahre in verschiedenen Gefängnissen des Landes und weiß aus eigenen Recherchen und aus Erfahrung, wie das „System der Erniedrigung vor und nach der Verurteilung“ funktioniert.
Allmacht der „Experten“

Hoda Saber starb im Gefängnis. Ihm soll medizinische Versorgung verweigert worden sein.
Hoda Saber starb am 10. Juni 2011 im Gefängnis. Ihm soll medizinische Versorgung verweigert worden sein.

„Jeder politische Gefangene hat von seiner Verhaftung an einen eigenen ‚Experten’, wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt. Dieser ist Beamter des Geheimdienstes und zugleich Chef des Vernehmungsteams. Er ist bestens über Biografie, Kontakte, ja sogar über die familiären Intimitäten des Gefangenen informiert. Er entscheidet über die Dauer der Untersuchungshaft, über Art und ‚Intensität’ der Vernehmung und darüber, welches Gericht und welcher Richter über den Fall urteilen soll.“ So beschreibt der Journalist Kazemian eine Praxis, die von anderen Gefangenen bestätigt wird. Deren Martyrium ist auch nach dem Urteil nicht vorüber. Der „Experte“ begleitet seinen „Fall“ auch nach der Verurteilung. Er bestimmt über seine Haftbedingung – und eben darüber, ob der Gefangene medizinische Hilfe erhält oder nicht. Zwar unterstehen laut Gesetz alle Gefängnisse der Justizbehörde. Doch das Geheimdienstministerium und die Revolutionsgarden verfügen über autonome Haftanstalten überall im Land. Politische Gefangene werden nach der Verurteilung hauptsächlich in Trakt Nr. 209 des berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis untergebracht. Dieser riesige Gebäudekomplex wird vom Geheimdienstministerium und seinen ‚Experten’ kontrolliert. Weder die Justiz noch andere Staatsorgane haben hier Zugang. Selbst Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad wurde der Zugang verwehrt. Als er Anfang November ankündigte, seinen inhaftierten Pressesprecher Javanfekr im Evin besuchen zu wollen, ließ Justizchef Sadegh Larijani dem Präsidenten ausrichten, dass er dort nichts zu suchen habe: Er solle sich ums Regieren kümmern. Ahmadinedschad konterte zwar, pochte in einem offenen Brief auf seine Rechte und Pflichten als Regierungschef und drohte mit Konsequenzen. Doch vergeblich. Auf seine Besuchserlaubnis wartet er immer noch.
Aussagen eines Zeugen
Was in den speziellen Haftanstalten geschieht, dringt nur selten nach außen. Etwas Aufschluss gibt ein offener Brief, den der Gewerkschafter Reza Shahabi an den Chef der Justizbehörde Sadegh Larijani schrieb. Der Arbeiteraktivist, der eine sechsjährige Haftstrafe im Evin-Gefängnis verbüßt, schrieb darin im November: „Ich verbüße hier keine Haftstrafe, sondern ein Todesurteil auf Raten. Nach meiner Verhaftung wurde ich neunzehn Monate lang in Trakt 209 des Evin-Gefängnisses in Einzelhaft gehalten und während nächtlicher
Arbeiteraktivist Reza Shahabi wurde 2010 wegen seiner kritischen Haltung zum Regime zu 6 Jahren Haft veruteilt.
Der Arbeiteraktivist Reza Shahabi wurde 2010 wegen seiner kritischen Haltung zum Regime zu 6 Jahren Haft veruteilt.

Vernehmungen so unmenschlich behandelt, dass ich jetzt mit Lähmungserscheinungen zu kämpfen habe. Unmittelbar nach der Einzelhaft haben selbst die Anstaltsärzte meine sofortige Einweisung in ein Krankenhaus und die Operation meiner Halswirbelsäule empfohlen.“ Doch sein ‚Experte’, schrieb Shahabi weiter, habe sich gegen die Krankenhauseinweisung ausgesprochen. Mitgefangene und Freunde setzten sich für den Gewerkschafter ein. Dessen Gesundheitszustand verschlechterte sich so rapide, dass er doch in einem Krankenhaus operiert wurde. Und Shahabi ist offenbar nur ein Beispiel für das System. In seinem Brief erwähnt er zwei Mithäftlinge, die wegen verweigerter medizinischer Hilfe starben. Drei Tage nach der Veröffentlichung von Shahabis Brief wandten sich fünfzig politische Gefangene, unter ihnen bekannte Anwälte wie Mohammad Seifsadeh und Abdolfattah Soltani sowie der Universitätsprofessor Fariborz Raies Dana an die Öffentlichkeit. Sie klagten über ihre medizinische Versorgung und wiesen auf den aktuell kritischen Gesundheitszustand von fünf Mithäftlingen hin.
Ohnmacht des Rafsanjani-Klans
Wie mächtig die ‚Experten’ des Geheimdienstes sind, zeigt auch der Fall von Mehdi Hashemi, dem Sohn des früheren Präsidenten Ayatollah Hashemi Rafsandjani. Er musste 2009 nach der umstrittenen Wiederwahl von Ahmadinejad das Land verlassen. Drei Jahre verbrachte er in London, bis er im vergangenen September in den Iran zurückkehrte. Bereits auf dem Flughafen wurde Hashemi mehrere Stunden lang verhört, und am Tag nach seiner Ankunft verhaftet. Anfang November wurde der 43-Jährige wegen eines Herzleidens in ein Krankenhaus eingewiesen. Zwar konnte die einflussreiche Familie zunächst durchsetzen, dass die Untersuchung in einem zivilen Krankenhaus geschieht, doch zwei Tage nach der Einlieferung des Patienten erklärte sein zuständiger ‚Experte’ die Behandlung für beendet. Hashemi musste zurück ins Gefängnis, wo er immer noch vernommen wird. Auch die einst mächtigste Familie der Islamischen Republik beklagt nun die Allmacht der Geheimdienst-‚Experten’.