Goethe und die iranische Revolution

Nacht für Nacht strömen Tausende Iraner zu den Lesungen. Wer keinen Platz mehr im Garten findet, hockt sich auf den Bürgersteig vor dem Garten oder klettert auf eine Mauer oder einen Baum in der Nachbarschaft. Und immer, wenn die Poesie zu Ende ist, erlebt Teheran in jenen Nächten noch nie dagewesene Massendemonstrationen für die Freiheit. Die Stimmung wird Nacht für Nacht hitziger, die Parolen, die nach den Veranstaltungen durch die Straßen Teherans hallen, radikaler. Und dies zehn Nächte lang. Die Revolution ist geboren.
Am dritten Abend tritt Institutsleiter Hans Becker auf und bittet auf Persisch und Deutsch um Mäßigung. Doch das hilft nicht. Am vierten Abend ist Said Soltanpour an der Reihe, ein Theaterautor, der gerade aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis freigelassen wurde – ein furchterregender Kerker, nicht weit entfernt vom Garten der Poesie. Soltanpour, der für seine Radikalität bekannt ist, trägt sehr emotionale Verse vor, die von seinem Leben im Gefängnis berichten. Die Wut der Zuhörer sei nach diesem Auftritt greifbar gewesen, erinnert sich Kurt Scharf.
Ironie der Geschichte: Soltanpour war der erste Dichter, der nach der islamischen Revolution hingerichtet wurde.
 Und die Poesieabende werden zu einem internationalen Kulturereignis. Intellektuelle wie Jean Paul Sartre, Simon de Beauvoir, Louis Aragon, Maurice Clavel und viele andere senden Solidaritätsbotschaften nach Teheran. Diese werden allabendlich für die Zuhörer übersetzt und feierlich vorgetragen. Teheran steht im Mittelpunkt der Welt, so empfindet die Mehrheit der Zuhörer. Das putscht die Stimmung weiter auf. „An diesen zehn Abenden habe ich sieben Kilo abgenommen“, sagt später Institutsleiter Hans Becker. Er weiß, was er angestoßen hat.

"Der Schah ist weg" - damit verbanden die Iraner die Hoffnung auf Freiheiten und Gerechtigkeit!
„Der Schah ist weg“ – damit verbanden die Iraner die Hoffnung auf Freiheiten und Gerechtigkeit!

Zehn Nächte, die die Welt verändern

Bis zu 15.000 Besucher, hauptsächlich Studenten, kommen allabendlich, demonstrieren auf dem Nachhauseweg und werden Nacht für Nacht mutiger. Warum die iranischen Sicherheitskräfte, die für ihre Brutalität bekannt waren, sich zurückhielten und all das duldeten, dafür gibt es mehrere Gründe. „Ein Grund war, dass der Schah eine diplomatische Krise mit Deutschland auf jeden Fall vermeiden wollte“, sagt Kurt Scharf heute.
Es waren „zehn Nächte, die die Welt veränderten“, schrieben viele diese Dichter später in ihren Erinnerungen. Dutzende Bücher, Dokumentarfilme und sogar Doktorarbeiten wurden seither über diese Poesienächte publiziert. Und in einem sind sich alle einig: Diese Nächte waren der Auftakt einer Revolution, die 14 Monate später der Monarchie ein Ende setzte.
Nach den Poesieabenden werden die Studenten mutiger und laden die Dichter in ihre Universitäten ein. Doch die iranischen Hochschulen sind keine ausländischen Kultureinrichtungen mit einer gewissen Immunität. Zusammenstöße mit der Polizei sind unvermeidbar, die Eskalation vorprogrammiert. Es gibt Tote, doch aufgeben wollen die Studenten nicht. Demonstrationen an allen Universitäten und Massenaufmärsche im ganzen Land sind an der Tagesordnung. Die Revolution ist da. Doch weder ist von einer islamischen Revolution die Rede noch beherrscht Ayatollah Ruhollah Khomeini die Szene.

Jimi Carter (4. v. re.) und seine Frau (2. v. re.) im Kreis der Pahlavi-Familie in Teheran
Jimi Carter (4. v. re.) und seine Frau (2. v. re.) im Kreis der Pahlavi-Familie in Teheran

Der Schah fliegt nach Washington

Drei Wochen nach den Dichterabenden empfängt US-Präsident Jimmy Carter den Schah in Washington. Bei der Begrüßung im Garten des Weißen Hauses weht der Wind Tränengasschwaden herüber; auf Washingtons Straßen laufen Protestzüge heiß. Das Bild vom Schah, der neben Carter mit einem Tuch seine Tränen abwischt, geht um die Welt. Und es wird im Iran als das endgültige Ende des Monarchen interpretiert. Schon wenige Wochen später, zum Jahreswechsel 1977/78, kommen Jimmy Carter und Gattin zum Gegenbesuch nach Teheran. Die beiden Staatsmänner bemühen sich um harmonische Bilder. Als der US-Präsident sein Flugzeug für den Rückflug besteigt, habe er dem Schah in tiefer Zuneigung gesagt: „Ich wünschte, Sie kämen mit uns“, berichtet später die kaisertreue Presse.
Carter hatte begriffen, dass die Revolution längst ausgebrochen war. Was für eine Revolution das jedoch ist, das weiß damals niemand. Denn die Demonstranten rufen weder nach einer Islamischen Revolution noch nach Ayatollah Khomeini. Noch nicht. Das wird erst ab Mitte 1978 der Fall sein und der Ayatollah von da an Alleinherrscher der Szenerie. Der Rest ist mehr oder weniger bekannt. Warum der ersehnte Regen, der Leben spenden sollte, sich in eine Sintflut von Gewalt verwandelte, ist eine andere, lange, aber in jeder Hinsicht sehr lehrreiche Geschichte.

© Iran Journal

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