Goethe und die iranische Revolution

Es beginnt unter ihnen eine heftige und nicht enden wollende Diskussion über Ob und Wie einer Dichterlesung. Schließlich sind sich alle einig, zumal die Lesungen im Goethe-Institut stattfinden sollen. Ein „sauberer Ort“ sei das Kulturinstitut der Deutschen, sagen viele Dichter. Über den Ausdruck „sauber“ im Zusammenhang mit dem Goethe-Institut lacht Kurt Scharf heute laut und herzlich: Das sei eben die berühmte persische Doppeldeutigkeit, sagt der Experte.
Doch eine Dichterlesung in einem britischen oder französischen Kulturinstitut stünde irgendwie mit der imperialen Politik dieser Länder in Verbindung, und ein Auftritt iranischer Intellektueller in einem US-amerikanischen Institut war per se undenkbar und indiskutabel. Doch die Deutschen, zumal ihr Kulturinstitut, sind unverdächtig, irgendetwas Kolonialistisches im Hinterkopf zu haben – jedenfalls im Iran.
Die Eitelkeit der Intellektuellen

Kurt Scharf (re.) mit dem verstorbenen iranischen Dichter Mehdi Akhavan-Sales
Kurt Scharf (re.) und  der iranische Dichter Mehdi Akhavan-Sales, 1990

Nach der ersten grundsätzlichen Einigung beginnt dann ein ebenso unendlich scheinender Streit darüber, wie diese Abende gestaltet werden sollen. Wie immer stehen persönliche Eitelkeiten und unterschiedliche politische Positionen einer Einigung im Wege. Ein Dichter will einen ganzen Abend für sich allein, ein anderer wünscht sich, die Poesienächte zu eröffnen, wiederum ein anderer verlangt, dass an „seinem“ Abend bestimmte andere Schriftsteller nicht auftreten dürfen. Manchmal waren Eitelkeiten und Bedenken so nerven- und zeitraubend, dass das gesamte Vorhaben zu scheitern drohte, erinnert sich Sarfaraz. Er stellt schließlich eine Liste mit 66 Lyrikern und Schriftstellern zusammen, unter ihnen drei Frauen. An jedem Abend sollten sechs oder sieben Dichter auftreten.
 

Die Deutschen wittern die Revolution

Ein „iranisches Woodstock“, wie manche im Westen diese Nächte später nennen werden, ist in greifbarer Nähe. Als Sarfaraz im September 1977 seinen Plan mit der Dichterliste schließlich den Verantwortlichen im Goethe-Institut vorträgt, ahnen die Deutschen sofort: Das ist keine normale Dichterlesung. Das werde politisch gefährlich und logistisch kaum zu stemmen sein, so die erste Reaktion. Die Deutschen kennen die Atmosphäre des Landes. Sie sind sich sicher, dass allabendlich Tausende kommen werden – und was wird dann geschehen? Selbst der deutsche Botschafter warnt und fürchtet eine heraufziehende diplomatische Krise. Trotzdem entscheidet sich die Leitung des Goethe-Instituts für die Poesieabende; ein Wagnis mit nachhaltigen Konsequenzen. 

Lautsprecher an Bäumen

Der Dichter und Journalist Jalal Sarfaraz, Initiator der Zehn-Nächte-Lesungen
Der Dichter Jalal Sarfaraz, einer der Initiatoren der Zehn-Nächte-Lesungen

Die Räumlichkeiten des Instituts sind jedenfalls für dieses Vorhaben zu klein. Deshalb wird die Veranstaltung in den großen Garten des deutsch-iranischen Kulturvereins im Norden Teherans verlegt. Es werden zahlreiche Lautsprecher an Bäumen befestigt, damit die Stimmen der Dichter nicht nur im weitläufigen Gartengelände, sondern auch in den umliegenden Straßen vernehmbar werden. Drei Wochen vor Beginn der abendlichen Veranstaltungen wird im ganzen Iran ein kunstvoll gestaltetes Plakat verbreitet, das die Iraner zu diesen Dichterabenden einlädt. Der offiziell nicht existierende Schriftstellerverband ist in Kooperation mit dem Goethe-Institut Gastgeber der Poesienächte, so steht es darauf. 

Die Stimmung wird Nacht für Nacht hitziger
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