40 Jahre Flucht und Vertreibung

Hamid Nowzari war 1979 gerade zwanzig Jahre alt, aus der Armee desertiert und begeistert von der Revolution im Iran. „Wie viele wusste ich nicht genau, wohin es gehen sollte. Aber wir waren irgendwie links und haben tagaus, tagein demonstriert.“ Ein Jahr später, als die neue Islamische Republik die Revolution bereits erstickt hatte, schickte ihn seine Familie außer Landes. „Sie sagten, ich brächte die ganze Familie in Gefahr.“ Der studierte Bauingenieur hat ein Treffen in der Neuköllner Reuterstraße in den Räumen des Vereins Iranischer Flüchtlinge vorgeschlagen, bei dem er seit fast 28 Jahren die Geschäfte führt.
Schon nach kurzer Zeit, berichtet Nowzari, habe er sich auch in Berlin wieder in die Politik gestürzt. „Die Mensa der TU war voll von iranischen Studenten aller Art. Jeden Tag gab es Büchertische, in der einen Ecke wir, in der anderen die Unterstützer der Islamischen Republik“, erinnert er sich. Eine Zeit lang habe man einander noch toleriert.
Doch die Zuspitzung der Lage im Iran schwappte auch nach Berlin. Als im Juni 1981 Staatspräsident Abolhassan Banisadr abgesetzt und alle politische Opposition verboten wurde, „kam es auch in der TU zu Auseinandersetzungen mit Handgreiflichkeiten“, erzählt Nowzari. Das Studentenwerk habe die verfeindeten Gruppen fortan nur noch an verschiedenen Tagen in die Mensa gelassen.
Mit den beginnenden „schwarzen 80er Jahren“ der massiven politischen Verfolgung Andersdenkender und dem sich verschärfenden Iran-Irak-Krieg kamen immer mehr Iraner nach Deutschland – und viele über Berlin.

Der Verein Iranischer Flüchtlinge in Berlin organisiert auch Demonstrationen gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran - Foto: Eine Demonstration vor der iranischen Botschaft
Der Verein Iranischer Flüchtlinge in Berlin organisiert auch Demonstrationen gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran – Foto: Eine Demonstration vor der iranischen Botschaft

 
Flucht über die DDR nach West-Berlin

Eine wichtige Fluchtroute zwischen 1982 und 1988: mit der damaligen DDR-Fluglinie Interflug von Ankara oder Istanbul nach Schönefeld, dann per S-Bahn zum Grenzübergang Friedrichstraße. „Die DDR war sehr solidarisch, hat jeden durchgelassen, auch Leute ohne Papiere“, sagt Nowzari.
Auf der Westberliner Seite begrüßten er und andere Studenten Woche für Woche Dutzende Neuankömmlinge, brachten sie zur Registrierungsstelle für Asylbewerber in der Friedrichstraße 219 (ab 1986 am Friedrich-Krause-Ufer) und gaben ihnen erste Tipps.
Ein Großteil der Neuankömmlinge wurde über den „Königsteiner Schlüssel“ für Asylbewerber nach Westdeutschland verteilt. So gelangten 1984 rund 2.600 iranische Asylbewerber nach Deutschland, 1985 waren es 8.840, 1986 sogar 21.700. Die meisten mussten weiter nach Hamburg, wo heute die größte iranische Gemeinde in Deutschland existiert.
Aber auch in Berlin stieg die Zahl der iranischen Staatsbürger stetig weiter: 1984 waren es 3.800, 1985 schon 5.100, ein Jahr später 7.000.

Grenzen dicht, hieß es damals schon

Allerdings stieß diese verstärkte iranische Einwanderung konservativen westdeutschen Politikern mit der Zeit sauer auf. „Eigentlich war es wie bei den Flüchtlingen von 2015/16 und der Debatte über offene Grenzen in Bayern: Die CDU machte Stimmung, wie das gehen solle mit so vielen Flüchtlingen, und drohte der DDR mit Geldentzug“, erzählt Nowzari. Ende
1987 wurde die Grenze dicht gemacht, erinnert er sich, Iraner ohne Visum in der Türkei wurden gar nicht mehr ins Flugzeug gelassen.

Seit 1984 von Berlin aus politisch aktiv gegen das Regime: die Journalistin Nasrin Bassiri - Foto: Amélie Losier
Seit 1984 von Berlin aus politisch aktiv gegen das Regime: die Journalistin Nasrin Bassiri – Foto: Amélie Losier

Auch Nasrin Bassiri, seit 1984 zurück in Berlin, nahm sich der frisch angekommenen Iraner an. Weil sie gut Deutsch sprach und sich auskannte in der Stadt, war sie viel gefragt als Begleiterin für Behörden- und Arztgänge. „Um mich zu entlasten, habe ich eine Broschüre geschrieben mit Adressen und Tipps, was ein iranischer Flüchtling wissen muss“, erzählt sie. Sie arbeitete in Flüchtlingsheimen, engagierte sich im Flüchtlingsrat.
1986 gründete sie mit Gleichgesinnten den Verein Iranischer Flüchtlinge. Bis heute ist er eine wichtige Anlaufstelle für Neuankömmlinge aus dem Iran, seit einigen Jahren zusätzlich zuständig für Afghanen. In den Räumen am Reuterplatz gibt es Deutschkurse und andere Integrationsangebote sowie Beratung in sozialen und asylrechtlichen Fragen. Der Verein macht regelmäßig Kulturveranstaltungen, etwa zum persischen Neujahrsfest Norouz, Öffentlichkeitsarbeit gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran und organisiert Protestaktionen, etwa vor der iranischen Botschaft. Gleichzeitig versteht er sich seit je als Lobbyorganisation für mehr Flüchtlingsrechte.
Um die war es in den 80ern schlecht bestellt, erinnert sich Bassiri. „Flüchtlinge, die abgelehnt wurden, mussten manchmal sechs Jahre und länger im Heim leben, durften nicht arbeiten, nicht studieren, ihr Leben war ruiniert.“ Auch sei der Rassismus gegen Flüchtlinge damals viel stärker als heute gewesen, besonders nach der Wiedervereinigung 1990.
„Im Sozialamt haben uns die Beamten geduzt.“ Heute sei ein solches Verhalten zumindest offiziell verpönt, „man ist sensibler geworden“, findet sie.
Zu dieser Entwicklung habe der Verein einiges beigetragen, sagt Nowzari, der seit 1991 aktiv mitarbeitet. „Dass Flüchtlinge Rechte haben, ein Teil der Gesellschaft werden sollen, Bargeld bekommen statt Chipkarten, eine Krankenversicherung, dass sie recht schnell eine Wohnung suchen dürfen – bei diesen Dingen war Berlin oft Vorreiter. Dazu haben wir vom Verein einen Teil beigetragen. Das macht mich schon stolz.“

Ein schwarzer Tag

Dann kam der Tag, den Berliner Iraner, zumindest die Oppositionellen unter ihnen, bis heute nicht vergessen haben: Am 17. September 1992 wurden im griechischen Restaurant Mykonos in der Prager Straße in Wilmersdorf vier kurdisch-iranische Politiker erschossen. Einer von ihnen, Nouri Dehkordi, war ein enger Freund Bassiris. Noch heute kommen ihr die Tränen, wenn sie erzählt, wie sie zusammen mit der Ehefrau den Leichnam identifizieren musste. „Ich konnte ihn gar nicht richtig ansehen.“
Der Prozess gegen die Mörder des „Mykonos-Attentats“ dauerte dreieinhalb Jahre und fand weltweit Beachtung. Denn die Bundesanwaltschaft als Anklägerin wies nach, dass hinter dem Organisator des Anschlags, dem Iraner Kazem Darabi, und seinen drei Helfern der iranische Geheimdienst stand. Das Urteil, verkündet im ­April 1997, löste ein politisches
Erdbeben aus – erstmals wurde der iranische Staat als Mörder benannt. „Es folgten Monate der Eiszeit zwischen Europa und Iran“, erinnert sich Nowzari, der damals als Beobachter für den Verein keinen Prozesstag versäumte und der Community ausführlich berichtete.
Immerhin: Danach hörten die Anschläge auf Exil-Iraner in Europa, die es immer wieder gegeben hatte, für einige Jahre auf. 2004 erreichten der Verein und Nowzari, dass am Ort des Attentats eine Gedenkplatte angebracht wurde.
Mitte der 90er Jahre eskalierte im Verein Iranischer Flüchtlinge ein schon länger schwelender Konflikt, der in gewisser Weise symptomatisch ist für die oft abgrundtiefe Zerstrittenheit, zu der oppositionelle Exil-Iraner bis heute neigen.
Es ging um die Beurteilung der „Reform“-Kräfte um den späteren Präsidenten Mohammed Chatami – so erzählt es Nasrin Bassiri: „Er hat eine Öffnung und mehr Freiheiten versprochen, innerhalb der Grenzen, die ihm das System ließ. Ich selbst wollte natürlich radikalere Änderungen.
Aber nur weil ich im Verein darauf hingewiesen habe, dass es diese Öffnung gibt, wurde mir in einer Versammlung vorgeworfen, ich arbeite mit der iranischen Regierung zusammen.“
Bei Hamid Nowzari klingt die Sache so: Man habe darum gestritten, „ob man diese so genannten Moderaten vom Ausland aus unterstützen soll. Die meisten im Verein fanden das politisch falsch, zumal es unsere politische Menschenrechtsarbeit weniger glaubwürdig gemacht hätte.“ Er wolle damit nicht sagen, dass Bassiri und ihre Leute „Unterstützer des
Systems“ waren. „Aber sie wollten den Akzent in Bezug auf bestimmte Kreise im Iran verschieben.“
Am Ende verließ Bassiri mit einigen anderen den Verein. Politisch konzentrierte sie sich mehr auf ihre journalistische Arbeit, für den Spiegel etwa, aber vor allem beim Radiosender Multikulti, wo sie 15 Jahre lang, bis Ende 2008, das Persische Programm leitete. Sie berichtete über Studentenproteste im Iran, interviewte Regisseure, die zur Berlinale eingeladen wurden.
Doch auch diese Arbeit hätten ihr hiesige Iraner des öfteren vorgeworfen: sie sei zu radikal, sagten die einen, zu systemfreundlich, die anderen. Viele, meint sie, seien offenbar nur neidisch. „Ältere Iraner sind oft verbittert, weil sie nicht die Chance hatten, hier Fuß zu fassen als Intellektuelle oder Künstler.“ Und sich zum Beispiel als Taxifahrer über Wasser halten müssen. Gleichzeitig seien sie gedanklich nur mit dem Iran beschäftigt – das Hier und Jetzt in Berlin würden sie gar nicht wahrnehmen. „Das ist eine Schizophrenie“, sagt Bassiri.

Neid und Rivalität
Fortsetzung auf Seite 3