„Habt keine Angst, wir stehen alle zusammen“

Schon von Beginn an war die Protestwelle in bestimmten Kreisen im Ausland, aber auch im Iran, auf Vorbehalte gestoßen. Es wurde etwa argumentiert, die Proteste seien auf wirtschaftliche Forderungen begrenzt und bezögen keine politischen Aspekte ein. Außerdem hieß es, dass es sich um impulsive Ausschreitungen von Randgruppen handele, denen eine umfassende Zielsetzung fehle. Die Proteste hätten keine zivilgesellschaftliche Basis, weshalb sie sich nicht ausbreiten würden, zudem würden sie in ihrer Radikalität die fragile Stabilität des Landes gefährden. Das könne in eine bürgerkriegsähnliche Situation führen.
Solche Skepsis wurde oft von jenen geäußert, die dem so genannten „reformistischen“ und „moderaten“ Flügel des Machtapparats nahe stehen und sich zu alternativlosen Hoffnungsträgern des Landes deklarieren. Dass die „reformistische“ Politik im Iran zu einer reinen Rhetorik verkommen ist, ohne sich in Taten manifestieren zu können, wird dabei außer Acht gelassen. Auch die im Laufe der Jahre aufgestaute Frustration in der Zivilgesellschaft wird ausgeblendet, die durch die leeren Versprechungen und faulen Kompromisse dieser „Reformisten“ verursacht wurde.
Aufschlussreich waren für mich vor allem die Parolen der Demonstranten, besonders jene, die auf diversen Versammlungen wiederholt wurden. Sie bezeugen, dass die wirtschaftlichen Forderungen der Demonstrierenden von ihrer Kritik am politischen System nicht zu trennen sind, da jegliche Forderung seitens der Gesellschaft unterdrückt und diskriminiert – da das Regime sie weder erfüllen kann noch will.
Eine diese Parolen lautet auf Farsi: „Eslam o pele kardan, mardom o zelleh kardan“. Sie kombiniert zwei Aussagen: zum einen, dass die Machthaber den Islam zur Legitimierung ihrer Macht missbrauchen, zum anderen beschreibt sie die Lage der Bevölkerung mit dem Begriff „zelleh“, der einen mit Wut aufgeladenen Zustand der Ausweglosigkeit beschreibt.
Ich kenne diesen Zustand aus meiner eigenen Erfahrung mit der Justiz der Islamischen Republik. Sie ist ein ideologisches System, das den Menschen sein Dogma auferlegt und jede Hinterfragung als religiöses Vergehen diskriminiert. Sich angesichts eines solchen Systems treu zu bleiben, ist fast unmöglich. Der Apparat zwingt jedem sein enges Denkraster auf – ob Kläger oder Angeklagter. Manchmal denke ich, dass sich das anfühlt, als würde man verschluckt, eingesaugt in den Verdauungstrakt einer riesigen und abartigen Gestalt. Die Situation ist real und unwirklich zugleich, gefährlich und dabei lächerlich. Es ist schwer, die Distanz zu bewahren, die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren und nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Man fühlt sich hin- und hergerissen zwischen dem eigenen Zorn und einem bitteren Selbstmitleid, das zum Nachgeben verleitet. Wenn ich meinen Erfahrungen mit diesem Verdauungstrakt nachspüre, führen sie mich zu Orten, die über die Landkarte Teherans verteilt ein Territorium des Unheils abbilden. Bei meiner letzten Reise in den Iran musste ich mich oft dorthin begeben.

Parastou Forouhar in dem historisch bedeutenden Haus ihrer Eltern, Dariush und Parvaneh Forouhar in Teheran - die Bilder des ermordeten Politikerehepaars stehen im Hintergrund recht und links von ihrem politischen Ziehvater Mohammad Mossadegh
Parastou Forouhar in dem historisch bedeutenden Haus ihrer Eltern, Dariush und Parvaneh Forouhar, in Teheran – die Bilder des ermordeten Politikerehepaars stehen im Hintergrund recht und links von ihrem politischen Ziehvater Mohammad Mossadegh

 
Erster Ort: Revolutionsgericht

Einen Tag nach meiner Ankunft in Teheran am 15. November fuhr ich in Begleitung meiner Anwältin zum Revolutionsgericht, um meine Akte zu lesen. Ich kannte diese Behörde aus früheren Jahren. Damals war ich Anklägerin gegen die Agenten des Informationsministeriums im Fall der Ermordung meiner Eltern. Nun wurde ich von demselben Ministerium verklagt. Wohlgemerkt wurde auch damals meine Position als Anklägerin nur formal anerkannt und hatte keine reale Substanz. Die Antworten, die ich bekam, waren Worthülsen, die bürokratischen Vorgänge, die ich durchlaufen musste, waren Vorwände, um mich hinzuhalten und zu ermüden.
Das Bild, das ich von diesem Gebäude in Erinnerung hatte, veränderte sich nun. Zunächst waren es die Besucherinnen, die mir auffielen. Sie trugen ihre Schleier nicht mehr so streng wie damals. Die Vorgänge in der Körperdurchsuchungskabine der Frauen waren aber genauso aufdringlich und übergriffig wie in den früheren Jahren.
Die große Eingangshalle war nicht mehr so überfüllt. Die damals vorherrschende Atmosphäre der Angst war einer Mischung aus Trägheit und Übellaunigkeit gewichen. Im Aufzug lief, entsprechend einer Teheraner Mode, eine leichte Musik. Richard Clayderman im Revolutionsgericht schien aber außer mir niemanden zu überraschen.
Das Vorzimmer des für meine Akten zuständigen Richterbüros war klein und überfüllt. Beamte und Besucher kamen und gingen in schnellem Takt. Hinter Stapeln abgenutzt aussehender Akten saßen zwei Büroleiter an ihren aneinander gestellten Schreibtischen. Rundherum saßen mehrere Anwälte, vertieft in Akten, die vor ihnen lagen und die sie im Eiltempo abschrieben. Im Revolutionsgericht ist das Fotokopieren immer noch verboten. Alle Akteninhalte müssen abgeschrieben werden. Es herrschte eine genervte Stimmung, die sich hin und wieder in spitzen Bemerkungen entlud. Die Kritik war stets an „sie“ gerichtet: Ein Synonym für das System, dem sich anscheinend niemand zugehörig sah.
Einer der Büroleiter, der mich erkannte, begann mit Bewunderung über meine Kunst zu sprechen. Er berichtete von einer Reportage über mich, die er kürzlich gesehen habe, ausgestrahlt von einem „konterrevolutionären“ Sender im Ausland. Dass ich nur deshalb in seinem Büro war, weil ich wegen einiger meiner Kunstwerke und eben auch wegen Interviews mit solchen Sendern verklagt wurde, erwähnte er dabei nicht.
Ich war verwirrt. Kurz danach erzählte einer der anwesenden Anwälte voller Begeisterung von einem offenen Brief, den meine Mutter drei Jahre vor ihrer Ermordung geschrieben hatte. Darin hatte sie den damaligen Kulturminister scharf kritisiert. Einstimmig stimmten die Anwesenden den Kritikpunkten meiner Mutter zu und priesen den Mut und die Aufrichtigkeit meiner Eltern – einschließlich der Büroleiter. Ich war sprachlos.
Als meine Akte uns zur Einsicht übergeben wurde, las ich die Texte vor, die meine Anwältin dabei aufschrieb. Sie sei geübt in Schnellschrift, sagte sie. Die Anklageschrift des Staatsanwalts war fast eine Abschrift der Klageschrift des Informationsministeriums gegen mich. Alle Protokolle, in denen meine Anwältin und ich die Vorwürfe gegen mich widerlegt hatten, waren zwar angeheftet, aber völlig außer Acht gelassen worden. Einige neue Vorwürfe des Informationsministeriums waren dagegen hinzu gekommen, auch viele meiner eigenen veröffentlichten Texte. Es waren Ausdrucke aus dem Internet, voller roter Unterstreichungen. Die Auswahl kam mir willkürlich vor; ein visueller Effekt der Schuldzuweisung.
Ein paar Tage später schrieb ich einen offenen Brief über den Inhalt meiner Akte, der große Resonanz in der Öffentlichkeit fand. Sogar Mitglieder des Parlaments äußerten sich kritisch zu dem Gerichtsverfahren gegen mich. Sie kündigten an, den Informationsminister dazu zu befragen.

Zweiter Ort: Reisepassbehörde, das Büro am Ende des Flurs im Erdgeschoss mit dem absurden Schild „Präsidial-Organ“

Fortsetzung auf Seite 3