Wertewandel in der Islamischen Republik

Schahla muss lachen, wenn sie solche Argumente hört: „Meine persönlichen Erfahrungen sagen das Gegenteil. Grade solche Frauen begeben sich in die so genannte weiße Ehe, die finanziell unabhängig sind und einen starken Charakter haben.“ Seitdem sie mit Ali zusammenlebt, interessiert sie sich mehr für diesen Lebensstil, informiert sich ausgiebig darüber und tauscht sich mit „Artgenossen“ aus.
Tausende von Menschen, die sich in den Großstädten für die „weiße Ehe“ entschieden haben, seien aus gebildeten und gut situierten Schichten, sagt sie: „Die meisten finden es wichtig, Tabus zu brechen. Sie rebellieren damit gegen diskriminierende Gesetze.“
Auch die Soziologin M. ist der Meinung, dass die Ungleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz bei der Verbreitung der „weißen Ehe“ eine signifikante Rolle spiele: „Wenn eine gut ausgebildete Frau ohne schriftliche Zustimmung ihres Ehemannes nicht das Land verlassen darf, um an einer wissenschaftlichen Konferenz im Ausland teilzunehmen, oder ohne die Zustimmung ihres Mannes nicht studieren kann, dann ist es doch nur natürlich, dass sie eine herkömmliche Ehe vermeidet.

Die Reaktion der Regierung Rouhani

Experten meinen, diese Art des Zusammenlebens stelle seit vielen Jahren ein Problem für die Regierenden dar. Doch in der Ahmadinedschad-Ära, in der die „problemresistente“ islamische Lebensweise hoch gepriesen und weltweit propagiert wurde, habe man darüber nicht berichten dürfen. Erst die Regierung von Hassan Rouhani, die den Problemen des Landes realistischer begegne, habe die Möglichkeit geschaffen, den „Vorhang fallen zu lassen“.
Anfangs reagierten gemäßigte RegierungsvertreterInnen genauso empört wie die Hardliner auf das Phänomen. Die „weiße Ehe“ wurde als gesetzeswidrig erklärt und man versprach, Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Das Ministerium für Sport und Jugend reagierte mit der Aufstockung der finanziellen Unterstützung des Staats für die, die zum ersten Mal standesamtlich heiraten.
Doch nach und nach rückten verständnisvolle Einsichten aus dem Lager der Regierung ans Licht. Reformorientierte PolitikerInnen sahen die offizielle Eheschließung zwar als „die beste“ Form der Ehe und Garant des familiären Zusammenhaltes an, äußerten sich aber nicht abfällig über die „weiße Ehe“. Eine der bekanntesten iranischen Reformpolitikerinnen, Fatemeh Haghigaht-Joo, die seit einiger Zeit in den USA lebt, bekannte sich sogar Mitte Juli zur freien Wahl der Form des Zusammenlebens. Die ehemalige Parlamentsabgeordnete gestand, in einer „weißen Ehe“ zu leben. Dies löste eine neue Welle der Pro- und Kontra-Reaktionen auf das Zusammenleben ohne Trauschein aus.
Dennoch erkennt die Regierung die „weiße Ehe“ als ein Modell des Familienlebens nicht an. Anfang März versprach das Gesundheitsministerium, sich intensiv mit „dem Problem“ zu befassen. Mohammad Motlagh von dem Ministerium ließ die „weißen“ Ehepaare wissen, man werde sie weiterhin in Eheberatungsstellen nicht beraten, es sei denn, sie würden offiziell heiraten.
Schahla ist der Meinung, dass die Regierung des Geistlichen Hassan Rouhani die „weiße Ehe“ niemals für gültig erklären werde: „Im unwahrscheinlichen Fall, dass sie es will, werden die Hardliner revoltieren.“
Das hieße, dass sie und Ali für immer ein „illegales Leben“ führen müssten. „Halblegal“, wendet sie ein, denn: „Die Weiße Ehe ist längst eine Realität, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist.“ Die Regierung habe viel größere soziale und wirtschaftliche Sorgen als Ehen ohne Trauschein, lächelt die Zahnärztin: „Deshalb wird sie uns tolerieren müssen. Vorerst reicht das uns. Die nächste Generation wird mehr verlangen.“

  SEPEHT LORESTANI

Übertragen aus dem Persischen von Iman Aslani

Quellen:
fardanews.com , entekhab.ir/fa , namayande.com , sedayiran.com/fa , yjc.ir/fa

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