Eine Datenbank des Verbrechens

Als Erstes haben wir alle Zeugenaussagen in Bezug auf Unterdrückung und Verhaftungen studiert. Dann suchen wir diejenigen auf, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Gefängnissen gesessen haben. Das Durchforsten der Zeitungen der letzten vier Jahrzehnte war das Allerwichtigste. Hier haben wir uns die Zeitungsarchiven der Islamischen Republik zur Nutze gemacht. Von vielen Geheimdienstlern kann man kaum Bilder finden. Auch das war ein Teil unserer Arbeit. Die Daten zusammenzustellen und darüber zu schreiben, war eine riesige Herausforderung. Die Verifizierung dessen, was uns zu Ohren und Augen kommt, setzt eine extra Sensibilität und ein großes Verantwortungsbewusstsein voraus. Für jedes noch so kleine Detail gleichen wir mehrere Quellen miteinander ab. Und wir sehen unsere Arbeit nicht als vollständig an. In manchen Fällen haben wir kurz vor dem Erscheinen des Buches noch Details gefunden und Daten aktualisiert. Deshalb bitte ich hiermit alle, die irgendwelche Informationen haben, diese uns zukommen zu lassen. Die Informationen müssen andauernd aktualisiert werden. Die Informationen auf unserer Webseite sind natürlich am aktuellsten.
Hat das Buch zu neuen Kontaktaufnahmen geführt?
Die Archivdaten der Islamischen Republik und der Opposition waren unsere wichtigsten Quellen. Über Gefängnisse, Festnahmen und Vernehmungen haben wir die meisten Informationen von Angehörigen der Opfer und politischen Gefangenen erhalten. Als das Buch erschien und die Leute sahen, dass durch ihre Unterstützung ein solches Nachschlagewerk zustande kam, wurden mehr Leute ermutigt und haben uns kontaktiert.
Wie finanzieren Sie das Projekt?
JFI wird von Organisationen gefördert, die menschenrechtliche Aktivitäten unterstützen. Für die Erstellung unserer Datenbank und für das Herausgeben des Buches „Das Gesicht des Verbrechens“ hatten wir jedoch kein Budget. Dabei wurde alles ehrenamtlich verrichtet.
Wie vertrauenswürdig ist Ihr Informationsnetzwerk?
Gegenüber unbekannten Quellen sind wir vorsichtig, wie exklusiv auch immer ihre Informationen sind. Wir wollen in keine Falle hineintappen. Es gab Fälle, wo wir bewusst Informationen aussortiert haben, weil wir nicht genug Beweise hatten und sie nicht verifizieren konnten.

Fotos einiger Opfer der Massenhinrichtungen im Sommer 1988 in den iranischen Gefängnissen
Fotos einiger Opfer der Massenhinrichtungen im Sommer 1988 in den iranischen Gefängnissen

 
Gab es Fälle, bei denen Sie aufgeben mussten?
Gegen eine Person, die meiner Meinung nach Rechte von Studierenden missachtet hat, mussten wir die Recherche einstellen, weil wir keine tragenden Beweise finden konnten. Das ist eine der höchsten Hürden unserer Arbeit. Man stellt  immer wieder fest, wie schwer es ist, Gerechtigkeit herzustellen. Man muss Beschuldigungen beweisen können. Unsere Arbeit liefert die notwendigen Beweise und schließt die Lücken.
Was erreichen Sie mit dem Verzeichnis?
Wir konnten die Europäische Union dabei unterstützen, zwölf Einzelpersonen und eine Einrichtung der Revolutionsgarde auf eine Strafliste zu setzen. Ihre Bankkonten wurden gesperrt und gegen sie wurden Einreiseeinschränkungen verhängt. Ein anderer Fall liegt vier Jahre zurück: Wir haben dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg Beweismaterial zur Verfügung gestellt, das zur Verurteilung des Direktors des iranischen Auslandssenders PressTV und anderer Funktionäre des staatlichen Rundfunks führten. Das sind zwei unserer Erfolgsgeschichten. Auch andere Organisationen konnten wir mit unseren Informationen unterstützen.
Immer wieder werden widerspenstige Frauen schon auf der Straße geprügelt
Immer wieder werden Frauen wegen ihrer Kleiderwahl schon auf der Straße von den Sicherheitskräften geprügelt!

Sie sagten, die damaligen Gefangenen und ihre Familien sind Ihre vertrauenswürdigen Quellen. Die Eltern der Gefangenen sterben aber nach und nach und die Gefangenen selbst werden auch älter. Brauchen Sie nicht ein breiteres Informationsnetzwerk?
Die sozialen Medien sind eine große Hilfe. Wir werden von den abgelegensten Ecken des Irans kontaktiert; von Ortschaften, mit denen wir überhaupt nicht rechnen. Die sozialen Netzwerke sind allerdings ein zweischneidiges Schwert: Die Verifizierung der Informationen aus dem Netz stellt sich als besonders schwierig heraus. Wenn wir etwa Informationen über einen Gefangenen in Shiraz bekommen, fangen wir erst damit an, über ihn zu recherchieren. Wer ist die Person? Gibt es ein Bild von ihm? Kennt ihn noch jemand? Auf der anderen Seite haben wir ziemlich umfangreiche Informationen aus der Opposition oder den Zeitungen der letzten vier Jahrzehnte. Viele Zeugenaussagen stehen uns als Audio- beziehungsweise Videomaterial zur Verfügung. Aus zeugenschutztechnischen Gründen können wir diese zwar nicht veröffentlichen, aber einsetzen können wir sie zu einem gegebenen Zeitpunkt.
Sind Sie während Ihrer Arbeit auf etwas Besonderes gestoßen, das dazu führte, dass Sie die Müdigkeit vergessen haben?
Ganz oft sogar. Wenn wir Erfolge hatten, haben wir gejubelt. Es gab aber auch Fälle, bei denen wir in einer Sackgasse steckten und nicht mehr weiterwussten. Ich glaube, die Islamische Republik hat sich von Anfang an darum gekümmert, dass bestimmte Leute unerkannt bleiben. Deshalb wurden beispielsweise die politischen Gefangenen mit Augenbinden verhört. Das Regime weiß, dass es sich verantworten muss, wenn die Dinge einmal anders laufen sollten. Selbst über Präsident Hassan Rouhani wissen wir nicht alles. Es gibt eine Lücke in seinem Lebenslauf und zwar, als er bei den sicherheits- und geheimdienstlichen Organen des Regimes tätig war. Oft stoßen wir an Grenzen. Wir bitten darum alle, uns jede noch so kleine und unspektakuläre Information zukommen zu lassen. Die kleinen Details machen erst dann Sinn, wenn sie zusammengetragen werden. Nicht alles, was wir sehen und hören, landet in der Datenbank. Die eingehenden Informationen sind der erste Schritt. Dann geht es zur Suche und Verifizierung anderer Puzzleteile.♦
  Das Interview führte Mahindokht Mesbah
  Aus dem Persischen übertragen und überarbeitet von Iman Aslani
© Iran Journal

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