Rütteln an Grundfesten: Exil-Theologen verunsichern die Ayatollahs

Soroush ist zwar ein Abwesender, ein Exilierter wie viele andere bekannte iranische Theologen: etwa Mohammed Modschtahid Schabestari, Mohsen Kadivar oder Hassan Yussefi Eshkevari. Dank Internet sind sie jedoch alle auch im Iran präsent und werden dort gelesen und gehört.
Und sie arbeiten emsig. Der in Hamburg lebende Philosoph Schabestari ist 80 Jahre alt, doch hält er regelmäßig Online-Seminare. Und der hoch angesehene Theologe spricht auch über aktuelle Themen mit erstaunlicher Offenheit. Nach den Terrorakten in Paris etwa schrieb er auf seiner Webseite: „Niemand kann behaupten, dass die Anhänger des IS und deren Wortführer nichts mit dem Islam gemein hätten. Sie fasten, sie beten und sie vollziehen alle religiösen Rituale wie du und ich. Auch ihre abscheulichen Praktiken sind tief in der Scharia verwurzelt. Nur eine gründliche Revision aller islamischen Grundsätze kann uns vor weiteren Katastrophen bewahren.“
„Ihr täglich Brot“

Der schiitische Geistliche und Schriftsteller Hassan Yussefi Eshkevari findet für das Verbot der Frauengesangs keine religiösen Grundlagen
Hassan Yussefi Eshkevari musste wegen seiner kritischen Äußerungen das Mullah-Kleid ablegen

Die meisten dieser besonderen Exilanten waren im Iran geistliche Turbanträger. Heute nennen sie sich „religiöse Neudenker“ oder Erneuerer und haben das übliche Mullah-Kleid längst abgelegt. Trotzdem könnte jeder von ihnen nach herrschender Definition ein Großayatollah sein, eine religiöse „Quelle der Nachahmung“. Und das dazu notwendige Wissen haben sie allemal. „Vor allem im schiitischen Lehrbetrieb werden wir sehr genau zur Kenntnis genommen, besprochen oder widerlegt, wir sind ihr täglich Brot“, sagt der in Bonn weilende Theologe Yussefi Eshkevari im Gespräch mit Iran Journal: „Man kann uns deshalb nicht ignorieren, weil das Internet inzwischen zu den unverzichtbaren Lehrmitteln der iranischen Geistlichkeit gehört – und zwar ein Internet ohne Filter oder Zensur, denn man wagt nicht, auch die schiitischen Lehrbetriebe zu zensieren“, sagt Eshkevari über seinen Meinungsaustausch mit Gelehrten im Iran.
Die Vorstellung, dass die iranischen Mullahs verschlossen und abseits der Welt lebten, habe mit der Realität nichts zu tun, sagt der exilierte Religionsgelehrte – und verweist auf die Stundenpläne der schiitischen Lehrbetriebe im Iran: „Sie studieren Wittgenstein, Freud oder Heidegger ebenso wie Fremdsprachen.“ Und sie nähmen alles, was die Exilanten schrieben, dank des Internets praktisch ohne Zeitverzögerung zur Kenntnis: „Die islamische Universität Mofid in der Stadt Qom etwa, deren Studenten und Lehrkräfte zum Klerus gehören, hat sich vorgenommen, vor allem unsere Ideen zu thematisieren – oder zu bekämpfen“, erklärt Eshkevari und zählt die Namen bekannter Professoren dieser Hochschule auf, mit denen er ständig kommuniziere.
Erneuerung kam und kommt von außen
Woher aber kommen die radikalen und wirkungsvollen Gedankenbrüche der Exilanten? Haben sie mit dem Aufenthalt im Westen und der Bekanntschaft mit westlichen Ideen zu tun? Ja, sagt Eshkevari: Alle, die in den vergangenen 150 Jahren im Schiitentum als Erneuerer aufgetreten seien, hätten eine Zeitlang im westlichen Ausland gelebt. Und er zählt Dutzende Namen auf – etwa Ali Schariati, Mehdi Bazargan oder Djamal Aldin Assadabadi. Sie alle waren Tabubrecher und haben viel bewegt. Er gehöre deshalb zu jenen unerschütterlichen Optimisten, die überzeugt seien, dass das Schiitentum sich von Grund auf erneuern werde, sagt Eshkevari: „Und das wird das Werk der Exilierten sein.“
  ALI SADRZADEH