Nirgendwo ist überall. Iranische Exilverlage

Und schon damals glaubte bald jede und jeder, eine Meinung über die junge Dichterin zu haben. Denn mit Farrokhzad hatte sich eine Künstlerin zu Wort gemeldet, die weit über die Literaturszene hinaus einen einmaligen Rang beanspruchte. In der langen Geschichte der persischen Dichtkunst war sie die erste, die sich mutig und offen jener Sprache bediente, bis dahin nur Männern vorbehalten war. Mehr noch: Im Gegensatz zu ihnen bekannte sie sich offen zu ihren Gefühlen und äußerte sich ohne Umschweife zur irdischen Liebe. Es waren eher die Männer, die in ihren Gedichten als ambivalente und quasi verschleierte Wesen auftauchten.
„Sünde“ war der Beginn einer kreativen Lebensphase, die nur zwölf Jahre dauerte. Jeder war zwar neugierig auf Farrokhzads Privatleben, aber niemand stellte ihre Kunst, ihr Können oder ihre Integrität infrage – obwohl Freiheit und Gefühle von Frauen ihre Themen waren und blieben. Las sich ihr erstes Gedicht bereits wie eine Revolte gegen Konventionen, so hieß einer ihrer Lyrikbände unmissverständlich Esiaan (Rebellion), und auch weitere Gedichtbände trugen ähnliche Titel: Asir („Die Gefangene“,1955), Divaar („Die Wand“,1956), Tavalodi Digar („Die Wiedergeburt“,1964).
Farrokhzad verfiel nicht den Moden der Zeit, sie sympathisierte weder mit einer Partei noch einer Ideologie. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist sie bis heute über politische Grenzen hinweg eine anerkannte Dichterin. Sie gehört zu den meistgelesenen iranischen AutorInnen.
1960 studierte sie in England Film und drehte 1964 „Das Haus ist schwarz“, der mit dem Oberhausener Kurzfilmpreis ausgezeichnet wurde. Sie starb am 13. Februar 1967 in Teheran bei einem Autounfall. Ihr Begräbnis wurde zu einem nationalen Ereignis.
Auch wenn all das manchen heutigen Zeitgenossen kaum glaubwürdig klingen mag: Wir sprechen von der Kulturszene des Iran vor 60 Jahren.
Aktueller denn je
Ist diese Zeit nicht längst vergangen, sind Farrokhzads Gedichte nicht vergessen, vergraben unter den Bergen der gegenwärtigen Glaubenspropaganda? Nein, sagt Professor Milani: „Sie bewegt uns immer noch, auch lange nach ihrem Tod. Ihrer Zeit war sie weit voraus, nicht zähmbar und nicht haltbar im Korsett der herrschenden Werte – deshalb war, ist und bleibt sie aktuell.“

Screen shot: Die Website des Verlages "Naakojaa" bietet mehr als 1.000 Bücher an
Screen shot: Die Website des Verlages „Naakojaa“ bietet mehr als 1.000 Bücher an

Farrokhzad sei die Botin einer leisen, aber beständigen Revolution, die in vollem Gange sei, sagt die Biographin und zitiert jüngere Dichterinnen, die allesamt von Farrokhzads Sprache und Persönlichkeit stark beeinflusst sind. „Kann in einem Land, in dem 60 Prozent der StudentInnen weiblich sind, eine Dichterin wie Farrokhzad in völlige Vergessenheit geraten?“, fragt die Autorin und fügt hinzu, sie wundere sich deshalb nicht, wenn viele junge Menschen in sozialen Netzwerken oft Farrokhzads Versen zitierten. Dann zitiert die Professorin selbst einen Vers von Farrokhzad, der zu einem Sprichwort avanciert ist: „“پرواز را به خاطر بسپار پرنده مردنی است“: „Behalte den Flug im Gedächtnis – der Vogel ist sterblich“.
Leser im Iran im Blick
In der Biographie beschreibt Milani nicht nur das Kulturpanorama der iranischen Gesellschaft der 60er Jahre. Sie hat auch die Zeit danach und die literarische Gegenwart im Blick. Man sieht, hier ist eine Wissenschaftlerin am Werk, die akribisch forscht und für ein breites Publikum schreibt. Hätte dieses Buch die iranischen Zensurhürden passieren können? Unvorstellbar, antwortet die Autorin und fügt hinzu: „Im Internetzeitalter ist doch vollkommen einerlei, welcher Verlag in welcher Ecke dieser Welt ein Buch publiziert.“ Zufall oder nicht: „Naakojaa“, zu Deutsch „Nirgendwo“ heißt das Internetportal, auf dem man die Biographie für 34 Euro bestellen kann.
Nirgendwo, überall
Für iranische Verhältnisse sehr teuer, doch die Autorin hat Ideen entwickelt, wie man Interessenten aus dem Iran eine kostenlose Print- oder Ebookversion des Buches zur Verfügung stellen kann. Denn die Nachfrage aus dem Iran steige merklich, berichtet Naakojaa. Der in Paris ansässige Verlag publiziert seit vier Jahren weltweit persischsprachige Bücher. „Nirgendwo“ ist also praktisch überall – und er ist im iranischen Literaturbetrieb in jeder Hinsicht einmalig.
Nur der Wahrheit und Ästhetik verpflichtet
„Keine politische, ideologische oder geographische Norm kann uns vorschreiben, was verlegerische Freiheit ist.“ Das war der erste Satz jener Erklärung, mit der Tinuche Nazmjou vor vier Jahren seinen Verlag ins Leben rief. Dieses Bekenntnis des Franko-Iraners war nicht nur eine Kampfansage an das Teheraner Zensurregime. Es war auch eine an jene Verlegerkollegen im Ausland, die der „reinen“ Exilliteratur huldigen. „Nur die Textqualität ist unser Maßstab, sonst nichts“, verkündete Nazmjou und seine vierjährige Verlagspraxis beweist, dass er sich strikt daran hält. In seinem realen wie virtuellen Laden kann man fast alles bestellen, Publikationen aus dem Iran ebenso wie „reine“ Exilliteratur. Das Portal von Naakojaa ist inzwischen auch eine Seite für Buchkritik, an der sich der Verleger selbst aktiv beteiligt. Denn als Autor, Übersetzer und Theaterregisseur ist Nazmjou in der iranischen Kulturszene ebenso gut präsent und vernetzt wie in der französischen. Im März 2016 gab er der „International Assembly of Independent Publishers“ einen amüsanten und höchst informativen Bericht über seine Erfahrung als Verleger im Ausland.
Das Gesicht der Zensur
Fortsetzung auf Seite 3