„Das Gerede von den eigenen vier Wänden ist Unsinn“ – der Gottesstaat und die Privatsphäre

Seit einer Woche ist der Iran der völligen Abschottung von der Außenwelt ein Stück näher. Die Behörden blockieren nun auch die meisten VPN-Zugänge. Virtuelle Private Netzwerke dürfen ab jetzt nur noch genutzt werden, wenn sie vorher bei den Behörden angemeldet wurden. Langfristig plant das iranische Kommunikationsministerium, ein eigenes nationales Computer-Netz aufzubauen. Diese allumfassende Kontrolle lässt sich mit der Nervosität vor der bevorstehenden Präsidentschaftswahl allein nicht erklären. Es geht um einen Kulturkampf, bei dem das Private im Mittelpunkt steht.
Er ist ein iranischer TV-Dinosaurier. Seine Sendung ist so alt wie die Islamische Republik selbst. Seit 33 Jahren tritt Mohsen Gharaati jeden Donnerstagabend zur besten Sendezeit auf – und rühmt sich, dass seine Sendung in all diesen Jahren kein einziges Mal ausgefallen sei. Der 67-jährige Geistliche ist Fernsehkult für Freund wie Feind. Und das nicht allein wegen seiner ewigen Bildschirmpräsenz: Seine landesweite Berühmtheit verdankt er auch seiner Frechheit und Offenheit.
„Auslegung des Korans“ heißt seine Sendung. Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini höchstpersönlich war Ideengeber der TV-Stunde. Gharaati selbst ist Autor mehrerer Bücher über Koran-Interpretationen.  Vor einem jungen Studiopublikum versucht er das Unmögliche: Exegese des heiligen Textes für jedermann – Analphabeten eingeschlossen. Wortklauberei oder Schlaumeierei ist nicht seine Sache. Im Gegenteil: Er bleibt auf dem Boden und befasst sich ausschließlich mit Alltäglichem, spricht witzig und ohne Scheu auch Tabuthemen an, fungiert als Familien- und Erziehungsberater und erteilt Jugendlichen Ratschläge bei sexuellen Fragen. Und wenn er am Donnerstag, also am Ende der islamischen Woche, zu einem aktuellen Thema eine religiöse Begründung gepaart mit Lebensweisheiten liefert, dann weiß man, dass das Thema auch in den nächsten Tagen im ganzen Land Priorität besitzen wird.

 
Mohsen Gharaati
Mohsen Gharaati

Vor zwei Wochen etwa nahm sich Gharaati des Begriffs „Privatsphäre“ an. Schelmisch begründete er, warum man in der Islamischen Republik keinen Unterschied zwischen Öffentlichem und Privatem machen sollte – warum also die Regierung das Recht habe, auch das Private und Persönliche zu kontrollieren. Welches Fernsehprogramm die Menschen via Satellit konsumierten, welche Pornos sie im Internet suchten – das könne einem islamischen Staat nicht gleichgültig sei, so Gharaati: „Es ist Unsinn, von den eigenen vier Wänden zu quasseln“, so beendete er seine Sendung.
 
 

 
Totale Observierung

Dass sich der Korangelehrte ausgerechnet dieses Thema vorgenommen hatte, verhieß nichts Gutes. Hauptstadtbewohner hatten bereits einige Tage vor der Sendung einen Vorgeschmack bekommen: Da hatte der Teheraner Polizeichef verkündet, es sei Polizisten erlaubt, in Privatwohnungen einzudringen und Satellitenschüsseln zu beschlagnahmen. Was sie in einigen Stadtteilen auch sofort taten.
Doch das Konfiszieren von Satellitenschüsseln gehört im Iran seit 17 Jahren zum Alltag – seit das Parlament den Empfang von Satellitenprogrammen verboten hat. Das konnte also nicht das einzige Motiv Gharaatis gewesen sein. Weitere Hiobsbotschaften waren zu befürchten. Und wirklich: Vier Tage nach der Sendung kündigte der neue Kommunikationsminister General Hassan Nami an, ab sofort alle  privaten virtuellen Netzwerke (VPN) zu sperren. Erlaubt seien nur noch behördlich registrierte VPN-Zugänge. Damit erklärte der in Nordkorea ausgebildete General das letzte Schlupfloch gegen die Zensur im Iran für geschlossen.
Die Anordnung kommt von ganz oben

 
Die Teheraner Polizei bei einer Satelletinschüssel-Vernichtungsaktion
Die Teheraner Polizei bei einer Satelletinschüssel-Vernichtungsaktion

Die umfassende Kontrolle des Privaten gehört zu den Lieblingsthemen von Revolutionsführer Ali Khamenei. Bei fast jeder Ansprache warnt er in verschiedenen Variationen stets vor den Gefahren einer „kulturellen Invasion“. Bei seiner jüngsten Rede vor Gelehrten in der Stadt Maschhad wurde er grundsätzlich: Der Regierung obliege die Aufgabe, einen islamischen Lebensstil zu entwerfen, ein Lebensmodell zu präsentieren, das alles umfasse: Heirat, Konsum, Wohnen, Erziehung, Freizeit, Kleidung, Beschäftigung und individuelles Verhalten, öffentlich wie privat.
 


Die Jünger und die aberwitzigen Vorschläge
Seit dieser Rede Khameneis melden sich dessen Paladine mit konkreten, oft lachhaften Vorschlägen. Der Freitagsprediger der Stadt Schiraz etwa gab eine Fatwa der Großayatollahs aus der heiligen Stadt Qom bekannt, die zeigt, welche Sorgen die greisen Gottesmänner im Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit umtreiben. Handys mit SIM-Karten, die Bildtelefonate übermitteln können, seien nicht erlaubt, zitierte der Prediger. Und der Freitagsprediger der Stadt Maschhad verkündete am selben Tag, Rad- und Motorradfahren sei Mädchen nicht gestattet, denn das sei eine rein sexuelle Demonstration. Auch der einflussreiche Großayatollah Jawadi Amoli meldete sich vollständigkeitshalber mit einem konkreten Vorschlag. Die offene Küche sei eine westliche Erfindung und stelle einen kulturellen Angriff dar, die Regierung solle für neue Häuser mit offener Küche keine Baugenehmigungen mehr erteilen, so der  Ayatollah. Der Wohnungsbauminister Ali Nikzad folgte dem auf der Stelle. Am 2. März zitierte ihn die Nachrichtenagentur ILNA: „Ich bin für Wohnungen in diesem Land zuständig, zugleich bin ich der Befehlsempfänger des geliebten Führers. Also müssen wir zum islamischen Lebensstil zurück. Auch ich bin der Meinung, dass die offene Küche nicht zu uns passt. Wir müssen zurückkehren zur Trennung vom inneren, intimen Bereich und dem offenen Gastraum. Baugenehmigungen für offene Küchen werde ich künftig nicht mehr erteilen.“

Werbeplakat für islamische Kleidung. Der Text des Plakats: "Psychologen sagen, dass Frauen, die nicht züchtig gekleidet oder zu sehr geschminkt sind, unter Persönlichkeitsstörung leiden"
Werbeplakat für islamische Kleidung. Der Text des Plakats: "Psychologen sagen, dass Frauen, die nicht züchtig gekleidet oder zu sehr geschminkt sind, unter Persönlichkeitsstörung leiden"

Und Mostafa Gawahi, der Chef des Teheraner Friseurverbandes, diktierte dem Reporter der Nachrichtenagentur Fars Ende Februar: „Bald werden wir ein Rundschreiben an alle Friseurläden senden, in dem die Haarmoden für Männer genau beschrieben und festgelegt sind.“ Die Kontrolle des Privaten scheint so selbstverständlich, dass es sich wie Siegesmeldungen liest, wenn Zeitungen von der Aufdeckung illegaler Musikgruppen, der Verhaftung „unzüchtig Gekleideter“ oder der Beschlagnahmung von verbotenen CDs oder Filmen berichten.
Auch Auslandsiraner im Visier

Und es gibt offenbar sogar Pläne, auch Iraner im Ausland zur Einhaltung der islamischen Normen zu zwingen. Das Verhalten der Auslandsiraner sei das nächste Ziel, sagt Oberst Sadegh Rezadust, Vizepräsident der Polizei und zuständig für soziale Angelegenheiten. Sollten sie sich im Ausland nicht richtig benehmen, würden ihre Pässe bei Wiedereinreise sichergestellt, so der Oberst Anfang März auf einer Pressekonferenz. Zwei Wochen vorher hatte das Parlament ein Gesetz debattiert, das die Ausreise lediger Frauen unter 40 verbietet. Das Gesetz ist noch nicht in Kraft. Denn dieses Mal hatten die Herrschenden sich offenbar geirrt: Der starke Protest von Frauen, an dem sich auch viele aus dem islamischen Lager beteiligten, hat sie überrascht. Ausgerechnet der erzkonservative Wächterrat fordert nun Korrekturen des Gesetzes.